Zunächst bin ich wohl eine Erklärung schuldig, warum ich nicht mehr zur Schreibwerkstatt erscheine, wo wir uns monatlich sahen und manchmal die Aufgabe gezogen hatten, den Versuch des anderen weiterzuführen oder zu interpretieren. Wenn ich daran etwas vermisse, dann sind es Deine bescheiden gehaltenen und leisen Beiträge, Deine Zuverlässigkeit und Durchhaltevermögen. Ein bisschen liegt mein Fernbleiben an einer mir von Anke verordneten Selbsterziehung, denn sie warf mir schlechtes Betragen vor, was wohl meiner Ablehnung gewisser persönlicher Verwicklungen geschuldet ist, die ich allerdings nie anders als durch Einhaltung einer gewissen Distanz ausdrückte. Außerdem ist es aber auch eine Zeitfrage, denn für mich bedeutet das immer einen Termin in der Arbeitszeit, und da ich mit meinem Sohn auch noch andere Tagtermine habe, muss man die Anzahl der Igel, die man kämmen möchte, in Grenzen halten.
Dass wir uns vielleicht das vorletzte Mal sahen, wusste ich nicht, als Du mir ein Buch von Erich Maria Remarque(1898-1970) liehst: „Im Westen nichts Neues“, eine alte Schwarte aus einem unübersehbaren Nachlass, die sich aber bei näherem Hinsehen als wertvolle Erstausgabe von 1929 erwies. So lange hatte der Kriegsfreiwillige Remarque gebraucht, um seine Erlebnisse im 1. Weltkrieg in einen Welterfolg zu gießen. Pazifistisch kann er bei der Niederschrift noch nicht gewesen sein oder er hat sich so verstellt, dass er seinen Landsleuten zu entsprechen versuchte, die – wie er begeistert – in diesen Krieg gezogen waren und dann in grausamen und sinnlose Grabenkriegen steckenblieben und sich dürftig von Steckrüben ernährten, während die anderen Kriegsparteien immer überlegener wurden und sich an frischen Baguettes und Cornet Beef gütlich tun konnten. Es war eine Zeit, in der der schreckliche Gaskrieg erfunden wurde, die Luftwaffe und die Tanks, die sich damals noch als unverwundbare Stahltiere durchs Schlachtfeld wälzen konnten. „Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener, wir sind einfach von der vielfachen Übermacht …“, das sind nicht die Worte eines Pazifisten. Doch das Buch ist in der Ichform geschrieben, als Bericht eines Paul Bäumer, der dann allerdings nicht 10 Jahre Zeit gehabt hätte, seine Erfahrungen zu überdenken, denn er fiel im Oktober 1918.
Die Verhältnisse an der Front werden auch nicht so beschrieben als hätte man Zeit gehabt sich viele Notizen zu machen. Von selbst muss sich alles so ins Gedächtnis eingegraben haben, dass es die ganze Zeit präsent geblieben war. Aber auch das stimmt nicht ganz, wie ich irgendwo gelesen habe, denn Remarque hat durchaus Aufzeichnungen gemacht, bringt alles aber so an, dass es erscheint wie rein aus dem Gedächtnis.
Trotz des leidigen Themas, der Roman gefällt und gefällt. Vielleicht ist er sogar mit Blick auf die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Geschlechter, der Biographien und Einstellungen geschrieben, aber warum auch nicht? Es bleiben einem nicht nur die Grausamkeiten in Erinnerung, die Leichen, die in die Bäume geschleudert sind, die blau angelaufenen Gasleichen, die jungen Rekruten, die unbedarft ins Feuer laufen. Die Episoden, wie das Gänseklauen, das Braten eines Ferkels, Wohlleben in einem Depot und das Überschwimmen eines Flusses, um dann als pauvres garcons in den Armen französischer Mädchen zu liegen, das sind die bleibenden Eindrücke. Sie sind voller Witz und Ausdruck einer Souveränität in einer beschissenen Situation, die unbeugsame Lebensenergie verraten. Es gibt keine Politik, sie sind kein Kanonenfutter des Imperialismus, wie wir gelernt haben, sondern Jungs, die sich in jeder Situation zurechtfinden und nur manchmal, wie bei der Szene mit dem sterbenden Franzosen im Bombentrichter, kommt es zu einer anderen Dimension, von der man eben nicht so viel kosten möchte, soll das Werk nicht ein unerträgliches Belehrbuch werden.
Die Auflage von 1929, zu der dieses Buch gehört, hatte einen Umfang von 650 000 Exemplaren, die Ihren Absatz im kriegsmüden, aber immer noch stolzen Deutschland fand, das inzwischen Revolution („leichtes Windgekräusel“), Inflation und die goldenen 20ger Jahre absolviert hatte. Die Hierarchie in dem Buch reicht gerade einmal bis zu einem verhassten Unteroffizier Himmelsstoß, der dann auch sein Fett abkriegt. Nicht viel besser sind die Stabsärzte, es ist das Leben eines Burschen von ganz unten und entspricht somit am ehesten der Masse der Kriegsteilnehmer, denen Remarque mit diesem Buch eine Stimme gegeben hat. Das Leben ist, wie es ist, der Krieg ist, was er ist, und es gilt sich darin zurechtzufinden. Liegt nicht in jedem Krieg sogar ein Zug von Befreiung? Als Paul auf Urlaub nach Hause kommt und eine zwar verarmte aber ansonsten noch heile Welt vorfindet, ist er darin gehörig fremd geworden. Was hätte er mit seinen Büchern angefangen sollen, die nach wie vor daheim im Regal standen? War nicht der ganze Mief dieser Zeit schon in der Schule zu erleben? Man hatte Bildung, aber wozu? Diese Frage steht heute wie damals.
Noch heute will man uns am liebsten ein hohles Ideal einhämmern: Was Du wissen musst, welche Persönlichkeiten Du unbedingt kennen musst, die zehn schönsten deutschen Volkslieder, die zwanzig besten Rezepte für die gesunde Küche. Lebe gesund und lebe lange – aber wozu? Das hat Menschen erzeugt, die nicht mehr gierig ein frisches Hörnchen verschlingen können, die sich täglich zwei Liter Wasser einhelfen und cholesterinbewusst leben, damit sie recht lange leben. Wer hört da noch auf den tapferen tragischen Nietzsche: „Die wenigsten leben zu kurz, die meisten leben zu lang.“
Wer nimmt sich noch selbst so wenig ernst, dass man ihn gemütvoll, ja humorvoll nennen könnte? Der gepriesene zur Unvermeidlichkeit erklärte Egoismus hat aus uns blutarme Vernünftlinge gemacht, die nicht einmal mehr die Energie haben ein waschechter Bösewicht zu sein. Hat Remarque das für uns entdeckt, dass die Welt ganz klein ist, dass da ein bisschen Spaß ist, auch Spaß andere zu ärgern, dass es vor allem ein paar Freunde gibt, auf die man seine Einfälle verwendet? Es gehört Souveränität dazu, mit Genuss ein fettes Leberwurstbrot zu essen oder eine Zigarre zu rauchen, den Arbeitstag mit Späßen zu würzen.
Angeblich leben wir ja in der Spaßgesellschaft, statt sich einem Natureindruck, einem belanglosen Gespräch zu überlassen, muss man unbedingt mit Spaß beschäftigt sein, einen Film sehen, Essen gehen, Computerspiele durchleveln. Statt einen mal auf die Schippe zu nehmen, ist man mit seinem eigenen Zeitvertreib vollauf beschäftigt. Auch sieht man sich von einer Gesellschaft umgeben, wo kaum noch ein anderer daran Vergnügen findet. Bei allen Filmen, Bowling, Ausgehen gähnt einen die große grüne Langeweile an, und wenn man noch genauer nachgräbt – die Sinnlosigkeit. Mit letzterer sollte man allerdings vorsichtig sein, denn es kann gut sein, dass ein Sinn nicht vorhanden, aber die Langeweile, das war doch gerade das, was die Spaßgesellschaft eben vermeiden wollte. Man müsste sie eben an sich heranlassen, die Langeweile, wer weiß, was dabei herauskäme.
Das Gesagte ist nun gar nicht im remarqueschen Sinne, denn er belehrt eben nicht, will nicht einmal anklagen, wie er seinem Buch vorausschickt. Das Räsonieren und das Meckern, womit wir teilweise unsere DDR-Zeit verbracht haben, liegen ihm fern. Inzwischen wissen wir, was diese 40 Jahre bewirkt haben. Sie haben die besseren Menschen hervorgebracht, was einem der inzwischen langjährige Vergleich mit den verwöhnten und nun wirklich ziemlich egoistischen Wessis nahelegt, denen nun fast jede Lebensenergie über Nacht soweit abhanden kommt, dass sie früh kaum aufstehen mögen. Auch bei uns fallen jetzt die Äpfel ungepflückt von den Bäumen und sprießt das Unkraut, wo das Budget nicht für einen staatlich engagierten Eineurojobber ausreicht, drängen sich die über dem Verfallsdatum befindlichen ehemaligen DDR-Menschen in Mols bei der Schnäppchenjagd.
Wollte man heute so ein remarquesches Buch aus dem Leben schreiben, wo nähme man die Paul Bäumers und Ludwig Bodmers her? Und richtig geliebt wurde Remarque zumindest von der Literaturkritik in der DDR nicht, wie ein miesepetriges Buch von Alfred Antkowiak: „Erich Maria Remarque“ beweist. Aber Remarque hatte immerhin das Glück, von den Nazis verdammt worden zu sein, so dass man nicht ganz an ihm vorbeikam. Nach seinem Kriegserlebnis hat er sich zwar von gefährlichen Situationen ferngehalten, war immer sicher emigriert und auch nach dem Krieg lieber in der Schweiz geblieben, aber seine Gestalten blieben immer so lebensvoll, wie man es sich wahrscheinlich damals vom sozialistischen Realismus gewünscht hatte. Seltsamerweise hat er aber nie zum Holzhammer gegriffen, den man ihm so gern nahegelegt hätte, hat nicht politisiert, ja nicht einmal generalisiert.
Wenn diese gesellschaftliche Dimension fehlt, dann ist vielleicht der Vorwurf gut, seine Schreiberei sei banal. Antkowiak geht nicht so weit, denn der gescholtene Autor hatte ja immerhin den Erfolg auf seiner Seite, und wenn die Literaturwissenschaft tief gräbt, dann fördert sie auch immer etwas zutage, in diesem Fall eine philosophische Dimension, allerdings ebenfalls zweifelhafter Couleur.
Es handelt sich um die „Lebensphilosophie“, einer Richtung, die uns heut einfach fremd sein muss. Ob er nun wirklich von Georg Simmel (1858-1918) beeinflusst war oder dessen Philosophie einfach einem Zeitgeist entsprach, den jeder damals atmen konnte, weiß ich nicht, aber dessen Ausspruch: „Alles, was Produkt des Geistes ist, alles, was der weitergehende Prozess des Lebens als Resultat aus sich herausgesetzt hat, hat dieser unmittelbaren lebendigen schöpferischen Realität gegenüber etwas Starres, vorzeitig Fertiges …“, hört sich nicht schlecht an. So kommen bei Remarque eben Leute schlecht weg, für die die Welt keine vage und zitternde Unruhe ist, die Senkblei und Waage und Lot haben und gut schlafen.
Bei der Erfindung der Lebensphilosophie, wo man den Begriff des Lebens leicht an die Stelle von Gott setzen kann, hat man eine ideale Lösung, die „sich mit nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern gar nicht kreuzen muss.“ Antkowiak rechnet Remarque das als einen Feldzug gegen die Vernunft auf und er spiele dabei reaktionären Philosophien in die Hände, führt aber selbst Lessing an: „Der Mensch ist zum Tun und nicht zum Vernünfteln geschaffen!“ Es geht also gar nicht gegen die Vernunft, denn an sich verhalten sich Remarques Helden alles andere als unvernünftig, treten sogar Verrückte auf, die vernünftiger sind als die Vernünftigen.
Das trifft insbesondere zu auf die Schizophrene Isabelle-Geneviève aus dem Schwarzen Obelisken, bei dem mal nicht der allgegenwärtige Krieg den Hintergrund bildet, sondern lediglich dei Inflation, die man vergleichsweise leicht nehmen kann. Aber darüber an einer anderen Stelle, denn es wird dort eine Welt entwickelt, die ganz ohne Feinde auskommt, wie es ja auch schon bei der Szene mit dem sterbenden Franzosen der Fall war. Jeder verdient Sympathie und ich verstehe jetzt sehr gut die Fans von Remarque, bin selbst einer geworden.
C.R. 15.09.200, 20.10.2007