Enttäuschungen
Auf dem Tisch standen zwei Gläser Bier. An dem Tisch saßen ein alter und ein junger Mann. Der junge wollte aus seinem jungen Leben erzählen, aber der alte hatte mehr zu bieten, lebenssatt wie er war.
Der junge hatte schon alle Illusionen verloren, die der Jugend doch so gut anstehen und hörte sich geduldig die Ergüsse des alten an. Aber seine Gedanken schweiften in eine Richtung, wo er selbst erzählt hätte und der ältere der aufmerksame Zuhörer gewesen wäre.
Sie stießen mit ihren Humpen an, aber das alte Glas gab keine Töne von sich. Der alte nahm das als Zeichen und schwieg eine Weile. Er dachte daran, dass es Zeiten gegeben haben muss, wo die Gläser schon freudig aufjauchzten, wenn der Trank nur in sie gegeben wurde. Es waren keine antiken Stücke, so dass ihnen keine Erinnerung an diese Zeiten mehr gegenwärtig sein konnte.
Schließlich stand der alte Mann auf und freute sich, nach anderthalb Stunden endlich mal wieder eine Zigarette rauchen zu können. Seit zwei Tagen tat ihm das Herz weh, was natürlich daran liegen konnte, dass er zu viel rauchte. Es war aber auch genau von dem Zeitpunkt an, wo ihm eine Ärztin gesagt hatte, dass seine Medizin, die ihn im seelischen Gleichgewicht halten sollte, also davon abhalten, dass er sein Leben vorzeitig wegwerfe oder es in zu vollen Zügen genieße, dass diese Medizin zu einer Herzschwäche führen könnte, die man an elektronischen Signalen ablesen könne.
Die Wege des alten und des jungen Mannes hatten sich also wieder getrennt. Weder der eine noch der andere hatte von dem anderen etwas lernen wollen und so ging der alte Mann zu den jungen Frauen und versuchte dort sein Glück, sie für die Physik zu begeistern. Aber die Begeisterung wurde in diesem Lande mit einer besonderen Elle gemessen, die genau 100 cm umfasste. Jeder Zoll an Begeisterung, oder was man dafür hielt, brachte die jungen Frauen um zweieinhalb cm weiter.
Die Zeit, die er dort verbrachte, spürte er sein Herz nicht, aber als er wieder allein war und der Vergeblichkeit seiner Bemühungen so nach und nach gewahr wurde, begann wieder dieser unterschwellige Schmerz, der das Ende ankündigte.
Am Abend trank der alte Mann ein Glas Wein mit seiner Frau, die am Computer saß und gerade mal zum Anstoßen (die Gläser klangen) kurz zu ihm aufblickte. Da ging er mit seinem Glas an seinen eigenen Computer und leerte es nach und nach, während er die leeren Postfächer durchsah, denn es war nicht mehr üblich zu schreiben, jedenfalls ihm nicht, während es an Monologen nicht mangelte, mit denen sich die Menschen an imaginäre, in der Vorstellung immer begeisterte Leser, wandten.
Da dachte der alte Mann über das nach, was ihm der junge am Vormittag hatte sagen wollen und nur in Ansätzen hatte herüber bringen können. Dass die Physik lebensnah sein möge, dass sie nützlich sein möge, wie sie es in der Technik vermag, aber nicht mehr ist. Dass man eine Arbeit haben möge, die nützlich ist und wieder Zeiten heraufziehen, bei denen die Gläser schon beim Eingießen aufjauchzen, als hätten sie Anteil am menschlichen Tun und Feiern. Er gedachte auch der jungen Frauen, denen es darum ging, ihre Elle voll zu bekommen und seine Seele schien ihm von Wunden überzogen, so dass es nicht wunder nahm, dass ihm das Herz immer noch schmerzte.
Da las er ein Gedicht, von dem ihm eine Formulierung im Gedächtnis haften blieb: „Wir wuschen sie mit Tränen aus.“ Das musste sich auf eben diese Wunden beziehen und sie sollten noch tiefer werden, bis dass sie eines Tages …
Christian Rempel,
Im Waltersdorfe 25.5.2013