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Kolumne KW 52 „Kalt ist der Abendhauch“

„Kalt ist der Abendhauch“

 

Der Roman mit diesem Titel stammt von Ingrid Noll. Gemeint ist mit Abend der Lebensabend, den die Schriftstellerin mit ihren 80 Jahren nun auch so langsam erreicht hat. Sie gilt als Spezialistin dafür, wie man sich als Frau seiner Ehemänner oder Geliebten entledigt. In diesem Buch steht nun eine Großmutter im Mittelpunkt, die den Besuch ihrer großen Liebe erwartet, der zwar nur ihr Schwager wurde, aber mit dem sie über lange Zeiten eine außereheliche erotische Beziehung hatte.

Dieser Liebhaber besucht sie nun als alter Mann, aber sie ist ihre Einsamkeit schon so gewohnt, dass sie es vorzieht, ihn in ein Altersheim verfrachten zu lassen, als ihn für den Rest der Tage zu bedienen. Frauen kommen mit dem Alter meistens besser zurecht, weil ja dann im Wesentlichen diese kleinen Verrichtungen im Leben übrigbleiben, die meistens ohnehin zu ihren Aufgaben gehören.

Die aktuelle Ebene, wo sie als Großmutter schon über eine reiche Nachkommenschaft verfügt, meistert die Schriftstellerin mit Humor und viel Sinn für die Gegensätze zwischen Jung und Alt. Immerhin kümmern sich ihre Kinder und Kindeskinder um sie und die alte Dame nimmt das auch mit ziemlicher Selbstverständ­lichkeit hin.

Die eigentliche Geschichte dreht sich aber um Vor-, Kriegs- und Nachkriegszeit, was doch eigentlich den Zeitpunkt markiert, wo die beiden Systeme auseinanderdrifteten und sich andere Lebensgewohnheiten hüben und drüben entwickelten. Eine politische Komponente gibt es in dem Roman fast gar nicht, wenn man davon absieht, dass einige Positionen der Helden zum Nazitum kurz umrissen wurden. So im Privaten gefangen, was ja bei einem Roman auch völlig legitim ist, sticht eine Eigenschaft der Protagonistin hervor, die sie trotz der erinnerten patriarchalischen Verhältnisse nicht nur allen anderen, sondern im Besonderen allen Männern überlegen macht – und diese Eigenschaft ist ein grenzenloser Egoismus. Wenn sie noch manchmal den Impuls verspürt zu helfen oder dem besuchsweisen Geliebten gar zu Diensten zu sein, ruft sie sich gleich wieder zur Ordnung und lässt den Faulpelz Faulpelz sein und nicht an sich heran.

Aber nicht nur die Gegenwart, wo man sich als alte Frau vielleicht schützen muss, sondern die ganze Lebensbilanz ist gekennzeichnet von diesem alles durchdringenden Egoismus und Genusssucht, gepaart mit einer gewissen Herablassung zum Beispiel Ausländern gegenüber, aber eigentlich selbst den jungen Menschen in ihrer Umgebung gegenüber. Eigentlich ist dieser Person alles egal, der Essenbringer hat nett zu sein und gut auszusehen, der ehemalige Geliebte soll möglichst gut riechen und sich am besten noch anfühlen, wie ein junger Mann. Zur Not hält man noch das Erbe in petto, dass alle gut spuren. Das ist sie in Reinkultur, die bürgerliche Gesellschaft, in der man sich noch als Greis über sein Geld definieren kann, das Desaströse am eigenen gelebten Leben mit Humor übertüncht und man so etwas wie ein Credo erhält, was hüben und drüben anders gelaufen ist. Bei Ingrid Noll ist eben alles Oberfläche, Tiefe findet man bei ihr nicht.

Christian Rempel im Waltersdorfe, den 22.12.2015