Der Mann, der die Grenze öffnete
In drei Wochen hat einer Geburtstag, der mein Bruder ist und zu Zeiten der DDR keine exponierte Stellung innehatte. Als es dann 1989 zur Wende kam, war ich Genosse und hatte an der Demonstration am 4. November teilgenommen, wo auf dem Alexanderplatz Prominente aufgetreten waren und was wohl in Berlin die erste freie Meinungsäußerung war. Der erste Sekretär der Bezirksparteileitung Günther Schabowski soll in Tränen aufgelöst gewesen sein, wie mein Freund und ich am nächsten Tag, einem Sonntag, erfuhren. Wir hielten ihm unsere Parteidokumente unter die Nase und sagten: „Wir sind die Partei!“, worauf er: „Nur kein Pathos.“
Am Mittwoch war es dann so weit, dass vor dem großen Haus, wie das heutige Außenministerium genannt wurde ca. 17 000 Genossen standen, die die Nase so voll hatten, dass ihnen die Worte nur so von den Lippen sprudelten. Allerorten wurde abgewählt und es kam ein erdrutschartiger Prozess in Gang, der kaum noch zu beherrschen war. Ich war auch bis einen Tag vor dieser Demo noch frischgekürter Grundorganisationssekretär, wurde aber am Vorabend wegen der Brenzligkeit der Sache wieder abgewählt. Die Demo wurde im DDR Fernsehen übertragen, wie man sich überhaupt verdient machte in diesen Tagen mit einer tollen Berichterstattung.
Am nächsten Tag hatte ich dann etwas Verfolgungswahn, es war der 9. November, aber war immer noch voller Tatendrang. Es war klar, dass sich das Volk würde versammeln müssen, um etwas von der führenden Partei zu erreichen. Ich wandte mich an das Neue Forum, der treibenden Reformkraft, denn das Zentralkomitee tagte immer noch im großen Haus, aber sie meinten, sie hätten für so etwas keinen Durchgriff. Da bat ich alle, die ich kannte, um diesen Schritt, sich dort hinzubegeben und die Meinung kundzutun und der einzige, der kam, war eben mein parteiloser Bruder, sah sich etwas verloren um und traf nicht mal mich an. Aber drinnen war Bewegung. Man konnte sich an den Fingern abzählen, dass das Volk eines Tages erscheinen würde und trat die Flucht nach vorn an. Der Bezirkssekretär erklärte die Grenze für geöffnet.
Christian Rempel in Zeuthen, den 16.9.2017