Wie Blei hat sich der Staub auf die gesammelten Werke von Gerhart Hauptmann gelegt, die, selbst Blei, in vier Systemen erschienen sind, angefangen vom Kaiserreich, dem dritten und dann in Ost und West. Wir hatten uns ja vorgenommen „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ zu lesen, und es zeigte sich, dass dieser verfängliche Roman auch in der DDR erschienen ist und sogar in den rigiden Fünfzigern, wo man doch im Neuaufbau einer unreligiösen Gesellschaft begriffen war.
Hauptmann muss schon 1889 unter dem Eindruck des Besuches psychiatrischer Einrichtungen in Zürich einem Laienprediger begegnet sein, der die zum Pfingstfest am Züricher See Lustwandelnden zur Umkehr und zur Besinnung aufforderte. Pathologisches hatte es dem Dichter ja schon in seinen Dramen angetan und so lag es nahe, diesen Eindruck mit ins heimatliche Schlesien zu nehmen und dort einen solchen Narren anzusiedeln, der sich eines Tages auf die Strümpfe macht, um zu predigen. Seltsamerweise ist er aber nicht darauf aus, Anhänger zu gewinnen, was allerdings nicht ausbleibt, sondern will nur ganz persönlich ein Beispiel geben, wie man Gott dienen kann, wenn man sich nämlich totaler Selbstlosigkeit befleißigt. Auch das christliche Ideal der Gewaltlosigkeit, das Ding mit dem Hinhalten der zweiten Wange, wenn erst eine geohrfeigt wurde, das Lieben der Feinde bis hin zur Hinnahme von Diebstahl und Raub, dieses Credo der christlichen, heute nicht mehr mehrheitsfähigen, Ethik will er vorleben. Zum Beispiel gibt Emanuel weder Geld aus, noch nimmt er welches an, eine persönliche Variante das leidige Geld abzuschaffen.
Die wichtigste Frage ist, ob Hauptmann seinen Emanuel Quint, der weder närrisch redet noch sich so gebärdet, wirklich für einen Narren hielt? Es wird zugestanden, dass er mit diesem armen Menschen, den er schuf, Mitleid gehabt haben könnte, denn dies gilt als besonderes Talent dieses Schriftstellers. Man macht seine Einstellung fest an einer köstlichen Ironie, die Hauptmann in das sakrale Geschehen mischt, die beim an sich ernste Thema, denn es geht um nicht weniger als das kommende Jüngste Gericht und Tausendjährige Reich, immer wieder zum Schmunzeln anregt. Die meisten Experten nehmen diese Ironie als Zeichen innerer Distanz, die auch tatsächlich der Autor dem Leser, nicht sich selbst, durch diesen Kunstgriff gewährt, so dass man eigentlich kein Mitleid mit Quinten hat.
Doch wie unbedeutend sind diese Schnörkelchen, mit denen Hauptmann eigentlich nur den Intellektuellen ein wenig Kurzweil bieten will und zu dem Urteil verleiten, er sei eins mit ihnen, gegen die Leistung der Erschaffung dieses Emanuel Quint aus dem Nichts.
Man setze sich hin und versuche eine einzige seiner Reden selbst zu schreiben und wird dabei nicht nur an mangelnder Bibelfestigkeit scheitern, sondern vor allem an mangelnder Anverwan-dung an diese einmalige literarische Gestalt, die nicht nur vernünftig spricht, sondern das zweitausend Jahre alte Christentum vernünftig weiterentwickelt. Es ist völliger Unsinn, das als Narretei abzutun. Diese als Stationenroman gestaltete Handlung kennen wir schon aus Goethes Wil-helm Meister, Eichendorfs Aus dem Leben eines Taugenichts oder selbst Cervantes Don Qui-chotte. Sie bietet die Möglichkeit, eine Entwicklung an Orte zu binden, die Natur einfließen zu lassen, bei ihm auch die Jahreszeiten, das sich gebetsmühlenartig wiederholende Kirchenjahr, und so alles deutlicher hervortreten zu lassen. Quint kommt dazu, erst als einziges Buch sich das Neue Testament einzuverleiben, es fast auswendig zu können, es dann aber zu verwerfen als menschengemachtes Werk mit viel Unkraut und nur wenigen Ähren guten Weizens darin, schließlich die uns als Photomotive und Reiseziele so liebgewordenen sakralen Bauten anzugreifen und mit dem Wanderstock das Erreichbare davon zu zerschlagen. Auch das Gefolge einer blöden Masse, das doch jeder Zeit in der Geschichte als wünschenswert erschien, wenn nicht als eigentliches Ziel herhielt, verwirft er, auch wenn ihm diese fast wie von selbst zuströmt, natürlich immer in der Erwartung irgendwelcher Wunder von ihm. Er lehnt aber das Wundertuen ab, fordert rigoros, dass man auch ohne diese Vehikel glauben können muss, ja nicht einmal sich an so einen Führer anlehnen sollte, dem man einfach nachtut. Seine Gefolgschaft will ihn zu so einem Guru machen, er aber lehnt das ab, fordert von ihnen, dass sie jeder für sich im Stillen beten sollen, dass jeder seinen eigenen Weg zum Gottvater findet.
Das ist eine sehr prinzipielle Sache der Führerschaft, die über das Christliche hinausgeht, auch weltliche revolutionäre Bewegungen betrifft, wo man ebenfalls stillschweigend davon ausgeht, dass ein Führer die Weisheit mit Löffeln gefressen hat und man ihm nur die Wahrheiten ablauschen muss, seinem Vorbild folgen. Damit weist der Roman weit über seine Zeit hinaus und kommt in der heutigen Postmoderne an, wo man nun wirklich jeden Glauben an eine Führerschaft verloren hat, aber in sich nicht die Kräfte vorfindet, das Problem für sich zu lösen.
Der Spagat des Helden, sich einerseits als beseelt zu erklären, andererseits aber die Wundergläubigkeit in die Mottenkiste des Aberglaubens zu verweisen, ist das Problem, das seine Gefolgschaft nicht bewältigt. Es wird schön die Komponente des Wunderbaren bei Heilungen, die sich durch seelische Anteilnahme an dem Schicksal des Kranken erreichen lässt, der nachweislichen Ausstrahlung eines mitfühlenden Menschen, von Hauptmann dargestellt ohne je der Versuchung des Phantastischen zu verfallen, und er geht so weit, die Wunderdinge, die aus der Bibel bekannt sind, als Humbug zu verbannen. Nun ist es zwar der Aberglaube, der Quintens heilerische Leistungen zum Göttlichen erhöht und ihm unter seinen Anhängern eine Glorie verschafft, die zeitweise seinem Anspruch auf Auserwähltheit zupasse kommt, aber der Aberglaube ist unersättlich, es reichen bald nicht mehr diese kleinen Erfolge, es muss schon ein Blick in das kommende Reich gewährt werden, damit man gehörig glaubt. Erst Messadier hat es unternommen, einen Christus zu gestalten, der nicht bereits riechende Leichen wieder zum Leben erwecken konnte oder zaubern, aber er verstieg sich noch nicht zu der Auffassung, dass es eines Menschen heute sein könnte, derart auserwählt zu sein.
Es ist auch eine einfache Überlegung, die darauf führt, dass es nicht der Sinn sein kann, dass einer der Führer ist und die anderen nicht viel mehr beizutragen haben, als die Gefolgschaft zu sein. Das wären alles veraltete Modelle und würden zu den veralteten Bildern führen, die zum Beispiel für einen wünschenswerten Kommunismus nicht geeignet wären, wo doch auch das Bild Führer und Geführte der Vergangenheit angehören müsste. Die Lösung kann offenbar nur in einer wohlverstandenen Kollektivität bestehen, wo sich jeder nach seinen Fähigkeiten in eine Gemeinschaft einbringt, sich der Einzelne im Wesentlichen dann auch wohl befindet.
Die Wahrheit auserwählt zu sein, manche mögen es schon in sich gespürt haben, kann nicht bewiesen werden, sondern stellt eine innere Empfindung dar. Für mich ist klar, dass nicht die Kunstfigur Quint dieser Auserwählte ist, sondern sich Hauptmann selbst, als der beste deutsche Schriftsteller seiner Zeit, als ein solcher empfunden hat (mutigste und strafbarste Hypothese), und wenn er ironisch ist, dann nur, um selbst auch ein bisschen Abstand zu wahren von dieser Selbsterkenntnis, die er vielleicht bei aller Beredtheit als für sich zu behalten für besser gefunden hat, nachdem er selbst dieses tragische Ende des Narren in Christo hingeschrieben hatte. Schreiben als Selbstschutz, das hat schon unser Altmeister Goethe praktiziert.
Noch eine Bemerkung für die, die sich für auserwählt halten oder gehalten haben. Wäre es nicht möglich, diesen Umstand zu verbergen? Nichts wird einem übler genommen als die These, man sei auserwählt, und man wird in Beweisnot kommen. Andererseits war es sehr gewünscht, sogar ersehnt in jener Zeit, dass einer käme, der wirklich auserwählt ist, an den man sich halten kann, wenn man die zugegeben schwierige Zwiesprache mit Gott aufnehmen will, weil doch nur über solche Mittler möglich. Wenn man selbst nicht den Fünfer im Lotto hat und der Auserwählte ist. Wieso eigentlich hält man Gott nicht nur für alleinerziehend, die Damen sehnen schon wieder Gaja herbei, sondern auch dem Wahn der Einzelkindbevorzugung verfallen. Würden sich plötzlich hie und da ein paar Töchter und Söhne Gottes finden, wie entspannt könnte das Ganze sein, jeder der Nichtauserwählten sich einen zum Paten aussuchen können. Aber wir wollen nicht ins Lächerliche ziehen, wie man sich abgemüht hatte, bis die vielen Götter auf einen reduziert waren, auch wenn sich da die Geschlechterfrage für Feministinnen nachteilig ausnimmt, und es gibt sicher ebenso gute Gründe mit einem Messias zu operieren, aber könnte dieser nicht dennoch, da es doch kein Wettbewerb ist, im Verborgenen bleiben?
Nicht Jesus nicht Quint sind gleich mit dieser Sache rausgerückt, erst mittlerweile haben sie sich dieses Label der Berufenheit und Gottessohnesschaft angesteckt und hatten damit nicht gerade langes irdisches Glück. Vielleicht ist es ein Naturgesetz, dass solche Menschen aufleuchten und ihr Lebenslicht kurz darauf verlischt, wie manche Spinnen im Geschlechtsakt verzehrt werden. Dann wiederum wäre das zwar bedauerlich, aber unvermeidlich. Indem man sich im religiösen Sinne zum Höchsten der Menschen erklärt, exponiert man sich sehr. Man kann es doch eher als eine Aufgabe auf Seiten der Menschheit sehen, dass der Messias mal durchkommt, was wohl eindeutig an den Mitmenschen liegt. Diese müssten dann wirklich dieses göttliche Reich begründen und diesen Weltenherrscher anerkennen, eine unserer demokratischen Verbiegung geradezu ungeheuerliche Vorstellung.
Ergo: Wir sind dem Reich Gottes ferner denn je. Wer wissen möchte, warum, der fege den Staub vom Hauptmann und siehe, wahrlich, Du wirst Goldesstaub finden.
C.R. 4.7.2011
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