Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Im Sog einer Kampagne

„Du hast zwar nicht viel Mitleid mit mir, aber ich leide wirklich erstaunlich.“ HvK

 

C.R. 2. September 2011

 

Es gibt zwei Möglichkeiten, dass man Kleist mag: man möchte mit künstlerischen Mitteln al­les anders machen oder gemacht sehen als die Klassiker, ohne ein Romantiker werden zu müs­sen, oder man ist weiblichen Geschlechts und ist für seine wunderbaren Briefe entflammt, denn Kleists eigentliche, sperrigen Werke sind nicht fürs schöne Geschlecht gedacht, sondern für Män­ner gemacht, wobei er allerdings „Gewalt über das Gemüt der Zuschauer zu gewinnen versucht, die verschreckt“ (ein ideales Instrument also heutiger Kunstmacherei). Ein Kriegstreiber – urteil­te Peter Hacks, und Jens Bisky, der Sohn eines bekannten Politikers, wählt eine dritte Möglich­keit, die wir oben vergaßen und schreibt sich ins bundesdeutsche Feuilleton, wo er es inzwischen bei einer renommierten Zeitung zum leitenden Redakteur gebracht hat. Sein Werk „Kleist – eine Biographie“ ist eins von ungefähr vier, die sich vom Sprungbrett des 200. Jahres­tages des Selbst­mords Kleists zu Nachruhm aufgeschwungen.
Wir hätten auf diese Kampagne um diesen Kindmann und Dichter wohl noch Jahre warten müs­sen oder hätten sie gar nicht mehr erlebt, hätte er nicht selbst mit dieser Zäsur seinem und Henriette Vogels Leben dieses Datum, den 21.11.1811, aufgeprägt. Zog sich doch fast durch sein ganzes Leben das Motto, dass dies Leben nur etwas wert sei, wenn man es verachte, und wenn uns der blutjunge Erfolgsautor und Kleistpreisträger Daniel Kehlmann nicht gesagt hätte, HvK sei der Dichter un­se­res Zwangs, würden wir ihn vielleicht abtun wie Zeitgenosse Goethe, der beim „rein­sten Vor­satz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu (emp­fand, wie bei einem) von der Natur schön intentionierten Körper, der von einer unheilbaren Krank­heit ergriffen wäre.“ Mit Krankheit stand Goethe auf Kriegsfuß.
Bei Bisky taucht Henriette Vogel am 20. November auf und ist am 21. tot. Eine andere wich­tige Geliebte, Marie von Kleist, führt in der Biographie ein Schattendasein, dabei ist sie doch ein so wichtiger Spiegel, wie HvK eben auf Frauen wirkte. So schreibt sie: „Eine Poesie wie die in seinen Briefen hat noch nie éxistirt, so wie nie eine solche Art Liebe, geschöpft aus allen Dich­tern und Dichtungen der Vorwelt.“ Die sechzehn Jahre ältere Marie, die mit einem entfernteren Verwandten Kleists verheiratet war, war eine Hofdame der Königin Luise und nach Kräften HvK`s Mäzenin, so dass sie sogar eine Pension für Kleist durch die Monarchin vortäuschte, die sie aus eigenen Mitteln bestritt. Zum fraglichen Datum des Selbstmords war sie allerdings er­krankt, nach­dem wohl einige nicht zu ihrem 50. Geburtstag gratuliert hatten. Vielleicht war HvK auch unter den Säumigen, aber in der letzten Nacht mit Henriette Vogel fand er noch pragma­ti­sche Worte für die Wahl der Mittodeskandidatin an Marie: „Kann es Dich trösten, wenn ich Dir sage, dass ich diese Freundin niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit mir leben?“ HvK hat diese Gedanken nicht nur gedacht und heimlich zu Pa­pier ge­bracht, sondern Henriette auch mehrfach auf die Nase gebunden. Sie ertrug das und ging hei­ter mit ihm in den Tod. Man musste als Freundin schon mit ihm sterben wollen. Das hatte Ma­rie abge­lehnt, und, verehrte Damen, würden Sie es nicht auch ablehnen? Immerhin ist das faszi­nie­­rend. So schrieb die einzige AutorIn, die ich zu HvK kenne, Tanja Langer, gleich ein ganzes Buch über die letzte Nacht der beiden, bei der es an hartem Sex freilich fehlen musste, denn die Ärmste und vielleicht auch er waren dazu gar nicht fähig. Wenn man will, kann man im langwei­li­gen Teil des Biskyelaborats auch alle unappetitlichen Details der Obduktion der Leichen nach­le­sen.
Eigentlich aber können wir das Buch gar nicht mehr empfehlen, wo es zur Beschreibung der ungefähr acht Dramen, die eigentlich sämtlich unspielbar sind, in aller Ausführlichkeit kommt, was etwa die Hälfte der Biographie ausmacht. Auch die Lebensumstände HvK`s in dieser Zeit tun diesem umstrittenen Dichter eher Abbruch, als dass sie zu unterhalten vermögen. Ist man nicht auf umfassende Bildung aus, kann man das Buch, von dem man am Anfang immer wieder ausrufen möchte: Ein Meisterwerk, ein Meisterwerk!, getrost auf der Hälfte zu Seite legen. HvK hatte ja den Schiller vor der Nase, der die Geschichte durchforstet hatte nach Dramatisierbarem und Kleist nur noch die Brosamen übrigließ. Goethe hatte es der Antike gleichgetan und auch ihn nachzu­ahmen mit Amphytrion oder Pentesilea, konnte nur misslingen. Mit seinen Aufrufen zum totalen Krieg, die Hacks verstimmt haben, versucht er es in der Herrmannschlacht, konnte damit natürlich bei Wagner oder den Nazis reüssieren, aber heute brauchen wir solche dichterische Mu­ni­tion gerade nicht. Selbst dem kultivierten und vielleicht etwas feigen Monarchen Wilhelm III. konn­ten wohl Verse nicht gefallen, wie:

 

Alle Plätze, Trift und Stätten
Färbt mit ihren Knochen weiß
Welche Rab`und Fuchs verschmähen
Gebet sie den Fischen preis

 

Dämmt den Rhein mit ihren Leichen
Lass gestäuft von ihrem Bein
Schäumend um die Pfalz ihn weichen
Und ihn dann die Grenze sein!

 

Das hielt selbst der König für überzogene psychologische Kriegführung, der es sich nicht so ganz mit den Franzosen verderben wollte. Dichterisch ist das allerdings beachtlich, wenn die kunstgerechte Me­tapher hier auch auf Vernichtungsfeldzug geschickt wird.
Warum nun riefen wir zunächst immer wieder: Ein Meisterwerk!? Das sind zweihundert Sei­ten der suchende, der zweifelnde, der auf seine Art liebende Kleist. Da finden wir die Komik, die wir in seinem Werk vergeblich suchen und die uns doch so nah und unterhaltsam ist. Da wird unser Feuilletonist, der mit Kleist eine frühe Offizierslaufbahn und den frühen Abschied davon gemeinsam hat, selbst zu einem rührenden Schwärmer, ja beide sind kaum zu unterscheiden. Es ist fast egal, wer den ersten gro­ßen Satz des Buches gesagt hat, Autor oder Protagonist: „Indem die Seelen sich vom Geräusch der Welt entfernen, tausend Gestalten der Dinge ungerührt vor­über­gehen lassen, um von Voll­kom­menheit zu träumen, tun sie den ersten Schritt zur Überwin­dung der Einsamkeit.“ Das ist doch, was unsere junge Generation als coolness entdeckt hat, My­riaden von Bildern auf sich einströmen zu lassen, sie aber nicht mehr in die Seele einzulassen, wenn wir mal voraussetzen wollen, dass das wirklich geht.
Hatte er sich einmal entschieden, wie für Wilhelmine von Zenge, ging er ran wie Blücher und schrieb gleich, ohne vorherige artige Zeichen seiner Zuneigung, auf seinen ersten Kassiber an sie, wie sie ihn durch ihre Hand sehr beglücken könnte. Allerdings fehlte es ja noch an einem Aus­kommen, und da setzte er auf seinen „Lebensplan“, der im Wesentlichen darin bestand unver­züglich berühmt zu werden. Ihr trug er einige Themen für Denkschriftchen auf, mit denen sie dann gelegentlich auch ein wenig zum Einkommen des angehenden Dichters beitragen könne, denn „die wechselseitige Übung im Beantworten zweifelhafter Fragen, liebe Wilhelmine, hat einen so vielseitigen Nutzen für unsere Bildung, dass es wohl der Mühe wert ist, die Sache ganz so ernsthaft zu nehmen, wie sie ist und Dir eine kleine Anleitung zu leichteren und zweckmäßige­ren Entscheidungen zu geben“. Schulung in Grammatik und Stil, im Denken und Urteilen ist in diesem Kleistschen Frauenförderungs­pro­gramm inbegriffen. Sie aber, ist nicht etwa pikiert, son­dern bezeugt ihrem künftigen Mann, der dann doch ein anderer war: „Meine Ausbildung und Ver­­­edlung lag ihm (Kleist) sehr am Herzen. Wenn er aus dem Colegia kam so beschäftigte er sich eine Stunde mit mir. Er hatte einen erhabenen Begriff von Sittlichkeit, mich wollte er zum Ideal um­schaffen, welches mich oft bekümmerte. Ich fürchtete ihm nicht zu genügen und strengt` all meine Kräfte an, meine Talente auszubilden, um ihn recht vielseitig zu interessieren.“
Ein Haustyrann, wie Thomas Mann, kann da nur die Nase rümpfen und Kleists Briefe, von denen wir uns vielleicht noch etwas mehr Zeugnisse gewünscht hätten, für die seltsamsten Lie­besbriefe der Welt halten. Dabei ist es doch gar nicht so verwunderlich, dass es einer Frau ge­fallen muss, wenn der Zukünftige höchste Hoffnungen in ihre geistige Mitwirkung und Form­barkeit setzt.
Kleist liebte mit Gründen und nach Plan, resümiert Bisky und führt uns noch das Verständ­liche einer solchen Auffassung vor Augen. Wieder mal ganz eins mit unserem Kleist, wenn die­ser seiner Liebsten schreibt: „aber sei der Liebe würdig und nie wird es Dir an Liebe fehlen …“
Ein bisschen Provokateur ist Kleist auch schon, wenn er das geliebte Brandenburger Land ei­gentlich als von „rückweichender See widerwillig freigegebenen Meeresboden“ sieht, der eigent­lich „ein Wohnplatz für Walfische und Heringe“ ist, was immerhin so noch nicht gesagt wurde. Naturgenuss sei überhaupt nur insofern möglich, als wie wir uns selbst nicht als hässlich empfin­den, was dann alles doch leider verdürbe.
Er findet Faszinierendes an der Wissenschaft, die er, für einen Dichter ungewöhnlich, höchs­tens den Frühromantikern anstehend, studiert und übernimmt deren Gedanken, dass in der phy­sischen und moralischen Welt das gleiche Gesetz obwalten könnte. Das Gewölbe stehe, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen. Die Welt sei fest, weil alles wechseln, wandeln, stürzen wol­le. Der Planet würde fallen, wenn nicht ein gezirkeltes Gleichwicht bestünde und der Schöpfer die ellip­tischen Bahnen ersonnen. Alles das ist in relativer Ruhe, aber birgt das Chaos, das es Kleist angetan hat. Das ist natürlich alles sonstwie modern.
Mit dreiundzwanzig ist er fast schon nervös („noch nichts für die Unsterblichkeit getan“), aber bezwingt sich selbst, dass wenn er erst ein Weib habe, er seinem Ziele „ganz ruhig und sicher ent­­gegengehen“ könne. Man kann sich mitfreuen, wenn er Wilhelmine mitteilt: „Du weißt, dass ich mich jetzt im schriftstellerischen Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideen­maga­zin angelegt, das ich Dir wohl einmal mitteilen und Deiner Beutheilung unterwerfen mögte. Ich vergrößere es täglich. Wenn Du auch einen kleinen Beitrag dazu liefertest, so könntest Du den Stolz haben, zu einem künftigen Erwerb auch etwas beizutragen.“ „Ich habe Fähigkeiten, selte­nere meine ich …“ Da war noch keine Zeile geschrieben, aber immer geheimnisvoller werden die Mitteilungen an die Braut aus der Ferne. In dieser Attitüde blüht die ganze dichteri­sche Phanta­sie: „Dich wollte ich wohl in das Gewölbe führen, wo ich mein Kind, wie eine ves­talische Pries­terin das ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe.“
Immer wieder aber auch Zweifel, wenn es um eine Beschränkung des Ich zugunsten einer ge­re­gelten Arbeit geht: „Ich will nicht Werkzeug zu Zwecken sein, die ich nicht vor dem Gerichts­hof meiner Vernunft prüfen darf.“ Seine Zwecke waren, so wieder unisono Autor und Held: unta­deliges Leben, das geliebte Mädchen ausbilden und sich selbst „auf eine Stufe näher der Gottheit stellen“. Und immer wieder die bitterste Not: „Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter auf Erden.“
Dabei ist schon ein wenig geschafft mittlerweile, ein Drama findet bereits Fürsprecher, aber er hat sich einen gewaltigeren Stoff vorgenommen, den Robert Guiskard, einem normannischen Feld­herrn, dem vor Konstantinopel die Pest einen Strich durch die Rechnung macht. Ob ihm da auch die von Brentano detektierte Eigenart auf die Füße fiel, dass er sich „alle Personen halb taub und dämlich denke, so kömmt dann durch Fragen und Repetieren der Dialog heraus“? Oder, wie Wilhelm Grimm meinte, Kleist hätte einen Hang zum Furchtbaren, der ihn beherrsche und verlei­te, ins Gräßliche und Empörende auszuschweifen? Er kämpft noch mit diesem Stoff während sei­nes Aufenthaltes bei Wieland in Oßmannstedt, der ihm sehr zugetan ist. Wieland beobachtet Kleist so: Ein einziges Wort konnte eine ganze Reihe von Ideen in seinem Gehirn anziehen, dass er nichts weiter hörte und mit der Antwort zurückblieb, er murmel­te zwi­schen den Zähnen mit sich selbst und hatte dabei das Air eines Menschen, der sich allein glaubt oder mit seinen Gedan­ken an einem anderen Ort und mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist. Wieland schien das an ei­ne gewisse Verrücktheit zu grenzen, für uns sind das sichere Indizien für Genie. Nichtsdestowe­ni­ger rüs­tete er Kleist für den weiteren Weg mit einem Schreiben aus, das höchste Hoffnungen bezüg­lich seines Talents aussprach und das Kleist wie einen Talisman aufbewahrte.
Aus dem Guiskard wurde nichts, aber wer es wagt, dem ist Kleists Wertschätzung sicher: „Ich trete vor dem Einen zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend im Voraus, vor seinem Geiste …“ Also liebe deutsche Dichter: Frisch gewagt – aber euer Leben ist nichts wert, wenn ihr es achtet.
War das vielleicht der große Bruch bei einem, der in einem echten Liebesbrief an einen guten Freund von sich sagen konnte: „Ich kann ein Differentiale finden, und einen Vers machen, sind das nicht die beiden Enden der menschlichen Fähigkeit?“ Aber wieder sind es Frauen, vornehm-lich seine Schwester Ulrike, die assistieren soll, der er gesteht, wie erstaunlich er leide. Eine Ein­ladung an Ulrike zum Zusammenleben mit ihm, liest sich so: „Du wirst mir gern zu dem einzi­gen Vergnügen helfen, das, sei es noch so spät, gewiss in der Zukunft meiner wartet, ich meine mir den Kranz der Unsterblichkeit zusammen zu pflücken. Dein Freund wird es, die Kunst und die Welt wird es Dir einst danken.“ Auch eine andere Avance, die Männer für eine Unverschämt­heit halten mögen, schmilzt Frauenherzen: „Du liesest den Rousseau noch einmal durch, und den Helvetius, oder suchst Flecken und Städte auf Landkarten auf; und ich schreibe. Vielleicht er­fährst Du noch einmal, in einer schönen Stunde, was Du eigentlich auf der Welt sollst. Wir wer­den glücklich sein! Das Gefühl mit einander zu leben, muss Dir ein Bedürfnis sein, wie mir.“ Doch so weit schmolz Ulrike, der Kleist viel zu danken hatte, nicht dahin, aus der WG wurde nichts.
Aber Marie, die Kleist um zwanzig Jahre überlebte, gedenkt seiner noch kurz vorm eigenen Dahinscheiden. Der eigentliche Nachruf 1811 stammt von ihr: „Heinrich war ein vortrefflicher Mensch, in den meisten Dingen der Vortrefflichste, den ich je gesehn habe. Diese angeborene Güte, Liebe, Sanftmuth habe ich bey keinem Menschen noch nie so eingefleischt gefunden, kein Engel vom Himmel kann sie in einem höheren Grad besitzen. Auch war er von Natur gottes­fürchtig und fromm. Französische Litteratur, Umgang mit Freigeistern hatten leider Zweifel in ihn gebracht. Er rang, um sie los zu werden, er kämpfte nach Überzeugung. Das griff seinen schwachen Körper an, dem er in seiner Jugend gewiß geschadet hatte durch Genuß mancher Art. Übrigens war er ein Dichter. Und wenn er kein einziges Gedicht erzeugt hätte, so war er doch seiner Natur nach ein Dichter. Er war der Poetischste, der Romantischste Mensch, den ich je gesehn, und so war vieles in ihm, was wir nicht erklären können, noch begreifen. Er war würklich ein Genialischer Mensch, und in einem solchen giebt es viele Dinge, die sich nicht erklären las­sen. Aber er war von einer Rechtlichkeit, Biederkeit, Ächtheit des Caracters, die mir eigentlich einen so großen Abscheu für allen Schein, für alles Prahlen, für alles Absichtliche im Lebenssein gegeben. Ach! er ist nicht mehr! ich habe einen Freund verloren wie wenige Frauen sich rühmen können einen zu haben.“