Carsten Henn
Eines meiner Geburtstagsgeschenke war das Buch „Der Buchspazierer“. Dieses im Pendo Verlag erschienene Buch kann einen schon bewegen. Ein alter Mann, ein Pensionär, der irgendwie aus der Zeit gefallen ist und ein ambitionierter Buchhändler war, trägt jeden Abend drei bis vier Bücher für die Buchhandlung aus, die nicht seine ist, und kommt dabei immer über den Münsterplatz. Seine Stammkunden sind natürlich auch aus der Zeit gefallen, denn sie lesen eben, was doch heute nicht mehr die bevorzugte Beschäftigung ist. Diese sind auch so verschieden, wie man sie sich nur vorstellen kann. Vom Reichen über einen Analphabeten bis zur Nonne, und wieder ist es so, dass fast alle allein leben, wie in Mariana Lekys „Was man von hier aus sehen kann“.
Ist das vielleicht der Zug der Zeit, dass jeder für sich ist? Beiden gelingt auch, bei aller Gesellschaftskritik ein Happy End, wobei sich die Bücher in dieser Hinsicht unterscheiden. Denn im Buchspazierer bleibt es im kleinen Zirkel der Stadt, während die Heldin bei Leky in die weite Welt hinauszieht.
Es ist nicht der einzige Punkt, dass die meisten Leute eben für sich sind, ob in der Stadt beim Buchspazierer oder auf dem Dorf Mariana Lekys. In beiden scheint die tiefe Verschiedenheit der Leute auf und es gibt eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, wobei eben im Stadtbuch dies im Leben geschieht und beim Dorfbuch anlässlich von Beerdigungen. Was bei letzterem aber nur wie persönliche Marotten erscheint, ist beim Buchspazierer von gesellschaftlicher Relevanz. Henn greift auch mehr gesellschaftliche Probleme auf, wie die Angst um die eigene Gesundheit, wenn er eine Szene, man stelle sich vor, in einer Zigarrenmanufaktur spielen lässt. Auch der Aspekt der Geschäftstätigkeit als seelenloses Geschäft, und wenn es sich dabei auch nur um eine Buchhandlung handelt, oder eben der Datenschutz, der jegliche persönlich versuchte Kontaktaufnahme ins Feld des Kriminellen rückt, oder auch das heutige Gesundheitssystem, in der menschliche Wärme auch keinen Platz mehr hat.
Beide erfinden extreme Persönlichkeiten, wie man sie in der Realität wahrscheinlich nirgends mehr findet, und insofern sind beide Werke utopisch oder eben zumindest akribisch konstruiert. Die Erfolge, die beide Bücher auch bei mir hatten, besagen wohl, dass die Sehnsucht nach derart Traumfabriken groß ist.
Wer auch noch zu der Spezies der Lesenden gehört, hat sicher an beiden Büchern seine Freude, wobei der Buchspazierer noch den Vorzug hat, dass er eben ohne die magische Komponente auskommt, also noch mehr aus dem Leben geschrieben ist. Da kommen empfindsamen Seelen schon mal die Tränen..
C.R. 6.3.2021