Was die Prinzessin bewegte …
… als sie allein in ihrem Schlosse ohne Tür noch Tor mit den schillernden Farbbächen ringsum vom armen, alten König verlassen worden war. Sie glaubte keine Sekunde daran, dass er ihren ältesten Sohn Christian je in der weiten Welt finden könne, ja sie zweifelte sogar daran, dass er etwas daransetzen würde. Ihre beiden verbliebenen Söhne waren ihr da ein Trost, und wenn diese auch etwas ungehobelt erschienen, als sie des armen, alten Königs ansichtig geworden waren, so hatten sie doch beide ein gutes Herz, das freilich nur der leiblichen Mutter galt, denn es wurde viel gehalten auf das Blut in dieser kleinen Familie. Sie erzählte ihnen von der Einladung, die sie erhalten hatte, und sie reagierten sehr unterschiedlich. Max wäre gern mal in die Welt hinausgezogen, aber unter der Voraussetzung, dass ihnen keine Polizei begegnete, denn diese fürchtete er mehr, als dass ihn die Abenteuerlust hinaustrieb. Murkel war der Meinung, dass sie in ihren Bergen doch alles hätten, was sie brauchten, und schließlich sei Bergsteigen doch der beste Sport. Murkel war ein bisschen dicklich – ein Erbteil seines Vaters, den er darum nicht so recht mochte. Aber er hatte eine Vorliebe für Märchen und Geschichten. Woher diese Gabe kam, konnte man gar nicht sagen, denn die Prinzessin ließ nur die notwendigsten Nachrichten an sich heran und meinte, auf mehr könne sie sich nicht konzentrieren. Murkel hing trotzdem an seiner Mutter, mehr als Max, denn er hörte auch sehr gern Musik mit ihr und hielt sich, wie sie, die eine etwas unsichere Stimme, aber in der höchsten Lage hatte, auch für einen guten Sänger, der es in der einen oder anderen Weise noch zu etwas bringen könne.
Also einer dafür und einer dagegen, sich mal auf so eine Reise ins Nachbarland zu begeben. Aber was dachte die Prinzessin selbst? Verdammt – sie könne sich nicht konzentrieren, dachte sie, tunkte einen feinen Pinsel in einen besonders glitzernden Bach und tupfte feine Punkte auf einen Stein, der danach aussah, als könne er noch ein Tierbildnis vertragen. Natürlich hatte sie auf dem Wams des armen, alten Königs diesen seltsamen und wunderschönen Fisch wahrgenommen. Die Züge des Königs wiederzugeben, konnte sie nicht, und nun denkt ihr vielleicht, sie malte stattdessen dessen Wappentier, aber nein, da geriet ihr einer der Tüpfelchen etwas größer und sprach zu ihr: „Ich bin es, Venus.“ „Ach, Du bist es, unsere schöne Nachbarin?“ „Ja, ich kann Dich etwas lehren, nämlich Dich zu konzentrieren.“ „Ich bin doch nie konzentrierter als beim Malen.“ „Du konzentrierst Dich aber dabei zu sehr auf Dich und vielleicht auf Deine Jungs.“ „Bin ich denn nicht auch das wichtigste auf der Welt und meine Jungs. Sieh, ich denke dabei auch an Christian.“ „Du bist eben eine Mutter, aber ich … .“ „Nun sag schon, was bist denn Du?“ „Ich bin eine Geliebte. Ich bin auf der Welt, dass man mich anhimmelt.“ „Und das ist, was Du mich lehren wolltest?“ „Nein, das weißt Du doch im Grunde selbst. Ich wollte Dich lehren, sich zu konzentrieren.“ „Ich bin konzentriert und gleichzeitig zerstreut mich das Malen.“ „Das ist auch gut so, doch zu welchem Ende.“ „Du meinst, ich soll reisen?“ „Nur, wenn Du jemanden brauchst, der für Dich eintritt.“ „Ich brauche jemanden, der mich nicht fallen lässt.“ „Dann reise!“
Die Prinzessin wunderte sich, dass sie nicht von selbst darauf gekommen war. Sie legte den Stein zu den fertigen und bald schon hatte sie das Gespräch mit Venus wieder völlig vergessen, denn sie konnte sich nicht nur schlecht konzentrieren, sondern hatte auch ein schlechtes Gedächtnis.
(s. Seelenwege)
C.R. im Waltersdorfe 30.7.2022