Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Fortsetzung

Fortsetzung

Ich unterhielt mich mit den Sowjetsoldaten, die eigentlich mit ihrem Kranwagen nach Nauen wollten, ich aber ins Hauptquartier nach Wünsdorf, was ja nicht gerade am Wege lag. Ich fragte sie, was sie von den Berliner Ereignissen wussten, und musste feststellen, dass sie keinerlei Plan davon hatten. Trotzdem haben sie den Umweg gemacht und mich nach Wünsdorf mit Kranwagen chauffiert. Bei Zossen auf einem Feld stand eine IL 62, ein Passagierflugzeug, das gut und gerne für das lachende Pferd und seinen Anhang ausgereicht hätte, falls es nach einem Militärputsch zu ungemütlich werden sollte in Ostdeutschland. „Alles klar“, dachte ich mir, „so etwas muss man eben zu bemerken verstehen und seine Schlussfolgerungen ziehen.“ Tatsächlich waren dann auch die Aufnahmeformalitäten im Hauptquartier, dank des riesigen Kranwagens, sehr locker und einige Offiziere versammelten sich und hörten sich meine Bitte, an zu Gorbatschow ausgeflogen zu werden, um ihm die Augen zu öffnen und schon immer mal um Hilfe zu bitten. Zum ersten Mal als Copilot in einer Suchoi, einem Düsenjägerzweisitzer, das war schon was und natürlich landeten wir nicht auf dem Roten Platz, wie zwei Jahre zuvor Mathias Rust, sondern in Шереметево. Ich quälte mich aus dem Cockpit und nach geschwinder und kurzer Fahrt lief ich um den Kreml, bis zu dem Turmfenster des Kämmerleins, in dem immer Licht gebrannt hatte, weil der Genosse Stalin ja noch arbeitete. Es war aber an diesem denkwürdigen 10. November dunkel und irgendwie gelangte ich durch salutierende Wachen bis an die Doppeltür des Prunksaals, der nun wirklich erleuchtet war, wie man durch eine Türritze (kein russisches Bauwerk ist ja ganz ohne Makel) bemerken konnte. Ich klopfte und von drinnen Gorbis geliebte Stimme (mitten in der Nacht): «Хелмут?» «Нет, это я, товарищ кристян.» Das war natürlich eine kleine Enttäuschung für ihn und nach выпить war mir auch nicht gerade. Ziemlich blauäugig sei er wohl, meinte ich noch, mit Verlaub, und ich kann von Glück reden, dass er zwar ablehnte, aber mir, begleitet von seinen guten Wünschen und die Erinnerung an sein Wort, dass angeblich das Leben denjenigen bestrafe, der zu spät komme, freundlicherweise einen seiner Senkrechtstarter zur Verfügung stellte, mit dem ich dann, direkt vom Roten Platz, auf Grund der Zeitverschiebung früher wieder in Wünsdorf anlangte, als ich in Moskau abgeflogen war.

Die Genossen Kommandeure, die immer noch am Tisch saßen ( was müssen Generäle nicht alles leisten, nicht nur in tiefen Gedanken und innerer Zufriedenheit nach der Schlacht durch Leichenfelder schreiten, sondern auch Nächte durchwachen und dennoch am Morgen frische Befehle geben, die für den einen oder anderen das Ende bedeuten). Jedenfalls haben sie meinen kurzen Bericht dann cool hingenommen (auch wenn mich eine kleine Explosion an Bord ereilt hätte, wie es Werner Lamberz, dem Kronprinzen, elf Jahre zuvor ergangen war). Sie verstanden meine Sorgen durchaus und empfahlen mir, die nächste Dienstelle des Schildes der Nation aufzusuchen und mich dort aber nicht unnötig aufzuhalten, wenn sie mich dort bitten sollten zu warten. Wie dieser Schild nun arbeitete, war mir weitgehend unbekannt, aber wo er zu finden war, wohl. An dieser Stelle fällt mir ein, wie Eberhard Aurich, unser damaliger FDJ Oberster, der aber wohl nie bei der Armee war, monierte, mit welch unzureichenden Mitteln und Waffen und welch hohem Blutzoll der Große Vaterländische Krieg durch die Sowjetunion unter Stalin gewonnen wurde. Natürlich prangerte er das nicht in jener, sondern in der Jetztzeit an, wo jeglicher Tat, die ja der Vergangenheit und Unabänderlichkeit anheimgefallen ist, die Spitze zum Besserwissen verbogen wird und so keinen mehr kratzt.

Nun war ein beschwerlicher Fußmarsch in dieser ereignisreichen Nacht zurückzulegen, von einigen Kilometerchen, und ich hielt es für angezeigt, immer wenn ein Shiguli entgegenkam, mich lieber hinter einem Baum zu verbergen bis die Scheinwerfer vorbeigehuscht waren. Ein bisschen Schlaf hätte jetzt gutgetan und ich wusste die Datscha eines Etablierten, in der alles liebevoll von dessen eigener Hand gefertigt war und ich mir so manche Nacht an meiner damaligen Frau „die Zähne ausgebissen hatte“, wie ihre Mutter verständnisinnig am Frühstückstisch bemerkt hatte. Die Tür ließ sich leicht aufbrechen, was mir dann allerdings dessen leichten, und doch verständnisvollen Unmut eintrug, als ich meine Tat gestand. Nach kurzem Schlaf noch ein paar Kilometerchen bis Zossen, wo mich dann, als ich eines dieser Schilderhäuser zwar in Augenschein genommen hatte und dann doch nicht betrat (wie weit hätte denn die Bewaffnung mit einem zwar nützlichen und gutmütigen Rat der Offiziere gereicht?), eine fröhliche Schar von jungen Westberlin-DDR-Touristen mitnahm bis Schönefeld.

Den Schild und wohl auch das Schwert der Nation ließ ich dann doch, nach der Überlegung, mich noch einmal dieser Entscheidung in Königs Wusterhausen zu stellen, lieber außen vor, wo mir doch die Militärs nicht mal eine Makarow überlassen hatten (welchen Colt doch jedes ZK Mitglied hatte, wie ich erst später mitkriegte und mit dem man kein offenes Scheunentor treffen konnte, wenn man davorstand. Jedenfalls reichten meine eigenen Fertigkeiten gerade so weit, wie ich bei der Armee mal ausprobiert hatte) und meine Eltern und ich sorgten uns um Kathrin und die immer noch nicht viel älter gewordene, vier Wochen war sie jetzt, Friederike. Mein Vater brachte sie zu den Schwiegereltern im fernen Thüringen in Sicherheit und ich muss wohl so durch den Wind gewesen sein, dass meine Mithausbesitzer mich dann auch weggeschafft haben und meinten, ich sei so ziemlich unerträglich. Eine Malerin, zu der sie mich brachten, die in meinem Alter war, wohnte denn auch auf dem Dorf, das weit genug weglag und uns fast jedes Mal, wenn wir uns gesehen hatten, die Natur uns einen Wink gegeben hatte, das Animalische dieser romantischen Beziehung nicht allzusehr ausarten sollte. Immerhin hatte sie als recht frisch Geschiedene sogar einen Trabi, und ich bat sie am nächsten Morgen, es war Sonntag! , nach Teltow zu bringen. Und es wurde in unserer Außenstelle in Teltow gearbeitet, weil einiger Ausfall, entstanden durch die neuerworbene und ausufernde Tourismusmöglichkeit, nachgeholt werden musste. Ich sagte ihr, sie solle warten, bis ich mit einem Wagen das Gelände verlassen würde und winken würde, sonst müssten wir und was anderes überlegen. Ein Plan B war aber dann doch nicht nötig.

Gegenüber der Bahn hatte ich ja Skepsis, war ich doch auch schon mal als Soldat auf dem Potsdamer Hauptbahnhof von den Feldjägern mit vorgehaltener MPI verhaftet worden, und der Elektroniker, mit dem ich viele schöne Projekte gemacht hatte in der Friedenszeit, brachte mich bis Merseburg, wo ich den Bahnhof nur inspizierte und lieber per Anhalter auf einem S50 nach Weißenfels mich mitnehmen ließ. Dort borgte mir einer der nettesten Jenaer Kollegen und Genossen seinen Trabant, den er gern der gemeinsamen Sache und jetzt ja wohl eher meiner Sicherheit wegen, mir bis Montag überließ, dass ich mich in meine zweite Heimat, nach Jena begeben könnte, wo in sehr ordentlichen Altneubauten mich Kathrin und meine jüngste Tochter bei den Schwiegereltern erwarteten.

Es wurden in einem Familienrat die Ereignisse der letzten Tage ausgewertet, auch das, dass schon zwei Krankenwagen in meinem Leben aufgetaucht waren, die mir bis heute etwas suspekt sind und mehr Aufsehen erregen, als wirklich notwendig. Kurz, wir fuhren in die nächste Klapsmühle und ich hatte es mit einem wirklichen Arzt zu tun, dem ich auch viel zu erzählen hatte. Nach einer Viertelstunde des Gesprächs sagte er abschließend, wobei ich mal eben den „Moskautrip“ lieber ausfallen ließ: „Sie sind nicht verrückt.“ Drauf ich: „Das merken Sie sich mal gut, und wenn Sie einer mal danach fragen sollte, dann wäre es nett, wenn Sie diesen, Ihren Eindruck dann auch vertreten würden.“

Als ich nach einer Woche dann wieder in Berlin zur Arbeit erschien, behandelten die Kollegen und Genossen (deren Zahl allerdings zusehens dahinschmolz) nachsichtig und keiner fragte danach, wie mir diese aufregenden Tage im Griesingerkrankenhaus, und wer spricht schon über einen solchen Aufenthalt unter den Verrückten und notorischen Rauchern, wohl bekommen wären.

Epilog: Als ich dann je in der durch die Umweltverschmutzung gebeutelten, aber immer noch schönen Sächsischen Schweiz meinen Enkeln zu erklären versuchte, was der Unterschied zwischen Mensch und Natur ist, dass jene nämlich nach der Physik in der Lage sei, alle Möglichkeiten einzubeziehen und sie ihre eigenen Fähigkeiten mal daran erproben sollten, welche Möglichkeiten es gibt, ein Handy abzuhören oder auszulesen, sind sie wacker auf einige Möglichkeiten gekommen (zum Beispiel das Display zu fotografieren), ich aber auf ein paar mehr, wenn auch ebenfalls nicht auf alle, wie es eben nur die Natur kann. Der arme Erich und die anderen Altvorderen allerdings noch auf viel weniger, sonst hätte ihnen gedämmert, dass, wenn sie zu Hause bei Margot oder wem auch immer, per Funktelefon in ihren Zitronen und Volvos das Mittagessen bestellt hatten, darüber dann nicht nur die holde Gattin Bescheid wusste und es gelte diesem gelernten Dachdecker und den anderen Kommunisten, die doch alle die zu Ihnen mehr oder weniger Aufschauenden oder kritisch Eingestellten „geliebt“ hatten, es gelte ihnen als Trost, dass man heute der Natur so nahe kommt, dass man ein paar Möglichkeiten mehr in Betracht zieht, mögen sie wohl je das Licht der Erkenntnis erblicken oder nicht.

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