Lieber T,
schon tagelang meinst Du mich mit Schweigen strafen zu müssen, aber vielleicht ist das auch die Erkenntnis, dass diese, unsere auf so flüchtige Weise ausgetauschten Nachrichten eben vom Wesentlichen ablenken, nämlich sich wieder mal der Mühe und der Vergnüglichkeit hinzugeben, große Kunst in sich aufzunehmen und gar zu versuchen, etwas künstlerisches zu schaffen. Und ja, ich versuche diese Durststrecke dazu zu nutzen, habe ich doch seit längerem kein dickes Buch mehr gelesen, aber mir wurde ein solches zum Geburtstag.
Dass ich jetzt wieder einmal Dostojewski lese, hat mit drei Dingen zu tun:
Erstens habe ich es geschenkt bekommen und zum Glück kein weiteres, so dass es zu schaffen scheint, es zu lesen.
Zweitens haben wir wohl alle Anlass uns eingehender mit der Seele, besonders der tiefen russischen zu beschäftigen, denn das Erstaunliche an diesem neuerlichen Sterben der Männer an den Fronten ist weniger ein Autokrat, der diesen Schritt in kriegerische Vergangenheiten wagte, sondern das russische und ukrainische Volk, das sich für diesen Bruderkrieg aufopfert. Wenn man sich bei uns überhaupt noch vorstellen kann, was es bedeutet sein жизн einzusetzen für eine staatliche Sache und wir diejenigen als Helden ansehen, die sich jeder kriegerschen, ja auch nur gewaltsamen Handlung entschlagen, so wird man Anlass haben, die russische Seele zu verstehen zu suchen.
Der dritte Anlass ist zu ermessen, ob man von Dostojewski etwa lernen kann, selbst etwas zu schaffen, wenn auch satt, sicher und zufrieden vom Sofa aus. Dostojewski war ja einem Todesurteil nur knapp entronnen und keiner seiner russischen Romane scheint ohne eine Bluttat ausgekommen zu sein. Die Abgeschiedenheit voneinander macht er als wesentliche Malaise der Gesellschaft aus und wie steht es damit zwischen uns beiden, die wir uns doch im schriftlichen Austausch befruchtet hatten, was Du aber letzthin als einseitig und nicht mehr zu ertragende Mühsal eingestuft hast und bald darauf verstummtest.
Wir als иностранные haben ja erleben können, was die russische Seele von uns hält, von der Dejurnaja bis zur Intelligenzia, waren wir als Wohlstandsbürger fast aus dem Westen reicher und ärmer zugleich. In den Ess- und Trinkgelagen – Ausdruck russischer Gastfreundschaft – die Erwartungen an seelische Tiefe meistens enttäuschend. Einen Zugang findet man nur, wenn man die Sprache Gottes spricht, also russisch, und freilich äußern wir uns da nur wie Minderbemittelte. Trotzdem werden diese laienhaften Versuche dankend zur Kenntnis genommen und man ist ihnen ein ganzes Stück näher. Unsere Dichter wurden jedenfalls von dieser russischen Seele, so man deren gebildeten Teil meint, weitaus gründlicher zur Kenntnis genommen als umgekehrt.
Der Schlüssel zur Beilegung heutiger Verwerfungen liegt bei den Völkern, nicht bei den jeweiligen Machthabern. Wo der Schlüssel zu Deinem Schweigen, ja nicht mal mehr Lesen meiner Nachrichten liegt, darauf bin ich noch nicht gekommen.
So sei gegrüßt von mir
CER 9.3.2025