Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW10

Der Schicksalschlag

 

Es hätte ein amerikanisches Städtchen sein können, wenn nicht ein mittel­alter­liches Flair der Gerichtstreppe gegenüber gelagert hätte, wo sich einige Advokaten aufgebaut hatten, von denen mich einer namens Longner ansprach, ob ich wohl ein Problem hätte und er mir behilflich sein könnte. Obwohl ich dankend ablehnte, raunte er mir seine Honorarvorstellung zu, die sich auf 250$ pro Stunde belief.
Probleme hätte ich nicht und eigentlich auch kein Geld zu verlieren, vielmehr hät­te ich schon etwas verloren und hoffte es hier wiederzufinden, wobei ich einen hilfe­suchenden Blick auf eine liebliche Gestalt mit Augenbinde warf, die wohl im Begriff war, Backzutaten abzuwiegen. Gern hätte ich der Dame meine Erfindung der ägypti­schen Waage erklärt, aber so hoch wie sie am Gebäude war, war mein Zutrauen, In­teresse damit erwecken zu können, nicht.

Der Pförtner händigte mir mein Sparbuch, das ich verloren hatte, anstandslos aus, doch wie wunderte ich mich, als ich darin die ungeheure Summe von 600 000$ er­blick­te und beschloss auf der Stelle, nach der nächsten Versteigerung zu schauen und mir ein Hotel zu kaufen, was schon immer mein Traum und der meiner Frau war. Es wird niemanden wundern, dass ein solcher Verkauf auch gerade anstand.
In den Gerichtssaal wurden noch Bänke getragen, weil das Interesse an dem Hotel groß war. Auf der Anklagebank oder so, saß unbeweglich eine Frau mittleren Al­ters und neben ihr Longner. Gegenüber saßen zwei fidele Bankangestellte, die wie die Unbeweg­liche aber die ganze Zeit nichts sagen sollten. Dann kam noch eine dekolletierte sehr junge Frau herein und wie ich noch überlegte, was die Aufre­gungs­flecken auf demselben wohl bedeu­ten könnten, setzte sie sich schon mit dem Rücken zu uns in die erste Reihe.
Die Richterin hatte wenig Ähnlichkeit mit der Backzutaten wägenden Gestalt am Eingang, war eher gelangweilt und be­grüß­te einige ihr wichtige Personen, wo­run­ter auch der neben mir sitzende kleine Mann mit Basecap war. Diesen schien sie aber nur notgedrungen zu erwähnen und ansonsten hatte ohnehin fast nur Longner das Wort: „Ob Sie’s glauben oder nicht, wenn Sie, meine Damen und Herren, hier 12 000 sagen, dann meinen Sie 557 000.“ Das war allen so unklar, dass keiner etwas sagte.
Mit diesem Schweigen kehrte so etwas wie Gemütlichkeit in den Gerichtssaal ein, wer ein enttäuschtes oder verzweifeltes Gesicht machen wollte, ging für ein Minüt­chen hinaus. So auch der Mann mit dem Basecap, den ich dann später noch drau­ßen antraf. Er war der Mitbesitzer des Hotels, hatte aber wohl an seiner Advoka­tin gespart, so dass er dies Geschäft nun am Telefon abwickeln musste.

Ich wartete auf den Moment, wo die unbewegliche Frau, den Finger heben würde und 12 000 sagen würde, was für jeden andern, wollte man Longner folgen, eine beträchtlich höhere Summe gemeint hätte. Ihr Ehemaliger, der Basecapmannn war draußen, aber nichts geschah. Noch einen Moment überlegte ich ihr zuvorzu­kommen, denn das war ja machbar, zog es dann aber vor, mir die enttäuschten oder verzweifelten Gesichter draußen anzuse­hen.
Mit einem kurzen Blicketausch ging der Basecapmann wieder hinein, nachdem er wohl seine ganze Telefonkarte leer hatte. Vielleicht, um doch noch den Finger zu heben. Ich dagegen ging wieder vor das Gebäude, um mir noch mal die Frau mit der Augenbinde anzusehen und für den einen oder anderen auf einen erfolg­reichen Ausgang zu hoffen.
Sie hätten jetzt lieber von einer span­nen­den Bietstunde gelesen, um die ich Sie nun leider bringen muss, aber sie dauerte wohl auch gar nicht mehr lange. Zwar habe ich weder Longner, noch die unbewegliche Frau, nicht die Banker und auch nicht die anderen Enttäuschten oder die Frau mit den Flecken auf der Haut herauskommen sehen. Waren sie etwa allesamt verhaftet? In einem Gericht weiß man ja nie. Dann kam der Basecapmann, der nun ruiniert war, was die schöne Gestalt mit der Au­gen­binde natürlich wie so vieles andere über­sehen musste.
„Wer war es?“, fragte ich ihn, „Ihre Götter­gattin?“ „Nein, jene die vor uns saß.“ Die blutjunge Frau mit den Aufregungs­flecken also, die sich jetzt in Frohlockungs­flecken gewandelt haben mögen. „Kennen Sie die Person?“ „Ja“ „Wer ist sie?“ „Meine Toch­ter“, sagte der Mann, der noch ein bisschen kleiner geworden war und war fast schon verschwunden. „Und Ein­spruch?“ „Einspruch abgelehnt.“
Das war alles ein bisschen viel auf einmal, ein Lebenswerk in Minuten zerstört. Da hob ich den Blick zu der Göttin:

Da bewegte Justizia ihren Arm von so schlan­ker Gestalt und führte ihn hinauf zur Augenbinde, stand nicht an, diese abzunehmen und blickte mich mit einem so wunderschönen Auge an (das andere hatte sie zugekniffen, was vielleicht auch Verschmitztheit ausdrücken sollte), dass ich wusste, welcher Verlust die Verhüllung gewesen war. Nichts von dem war ihr entgangen, das sich im Gerichtssaal zugetragen hatte, nichts wurde gebilligt.
„Nimm Du nun die ägyptische Waage, die Du zu Hause hast und die in der Lage ist, ein einziges Korn in einem ganzen Säck­chen von Reis zu wiegen. Dass Du des Blickes einer Göttin teilhaftig wirst, sei Auftrag für Dich. Doch nicht in den Para­graphen suche die Wahrheit, suche sie in Dir selbst.
Leider gehört die Welt uns Göttern nicht mehr. Ehrfurcht und Schönheit sind verlorene Größen. Und wenn dieses Haus hier einst vielleicht einmal schön war, so kann es das jetzt nicht mehr sein, weil kein zufriedener, kein geläuterter Blick es mehr streift, auch kein Stolz ist mehr.“
So träumt ich, während sich an der Straße ein Kanal­deckel langsam hob von der schwa­chen Kraft einer Ratte und sogleich wieder schloss, denn ein weißer Cadillac fuhr vor, worinselbst mein Freund saß und mich einlud mitzufahren. „Einen Brief, ja, einen Brief sollten Sie unbedingt schrei­ben.“
Auf dem Heimweg, noch in der Stadt, sehen wir den kleinen Mann noch mal. Er blickt unter dem Schirm seines Basecaps hervor und ist – guten Mutes.

 

Im Waltersdorfe 03.03.2012