Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär

Walter Moers
Erstausgabe: 1999
ISBN10: 344245381X
Verlag: Goldmann

„Auf nach Zamonien“
Der Autor

13 ½ Jahre hat es nun gedauert, bevor der nunmehr 55 jährige Autor, über den man nicht viel sagen kann, weil er doch offenbar in Zamonien zu Hause ist, bei Bedarf hier eine Rezension zu seinen ersten 13 ½ Leben lesen kann, mit denen er den Einstieg ins Romangeschäft wagte und sich gleich in die Top-Tausend-Titel katapultierte. Da die FAZ damals titelte, dass es auf absehbare Zeit schwerlich bessere Unterhaltung geben würde, kann man sich mit Besprechungen Zeit lassen, weil doch auch Zamonien von Wesen bevölkert ist, bei denen die Zeit eine andere Rolle spielt und diese auch durch Zeit­schnecken an den Dimensionslöchern zum charakteristischen Gennfgas verdaut wird. Der Autor fühlt sich in der Haut des bekannten Blaubären, nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Beeren, am wohlsten und noch wohler vielleicht in den Armen der kornblumenblauen Avriel, einer besonders schönen und gebildeten Buntbärin, die ihn dann einige Zeit von weiteren Abenteuern zurückzuhalten versteht, so dass wir nach einem Show Down auf dem Riesenschiff Moloch dann noch ein Happyend bekommen, von dem wir vorher erfahren haben, dass selbst ein solches der Erfindungsgabe von Blaubär, also Moers, zu verdanken ist.

Gemütvoller Superman

Bereits 13 ½ Leben in der erdachten Welt Zamoniens hinter sich gebracht zu haben, bedeutet auch mindestens 13 Mal dem Tode entronnen zu sein und wäre man nicht ein Bär, dem man Gemüt beilegen kann, wäre man ein weniger sympathischer Aufschneider. Damit wird aber gerade gespielt in diesem umfänglichen Roman, der zeichnerisch und typographisch aufgelockert, einen mit Leichtigkeit durch die vielen Abenteuer trägt, die wie auf einem Plan zum Spiel des Jahres in diesem fernen Land angesiedelt sind und so richtig dazu angetan sind, dem Schicksal touristisch und literarisch in den Rachen zu greifen, dem man sein Leben programmatisch nicht überlassen möchte, und man des langweiligen Menschseins überdrüssig, ins verspielte und gemütsverdächtige Fell eines Meister Petz schlüpft, dessen man sich auch immer erfolgreich erwehren kann, mag die Situation im Konkreten so aussichtslos wie nur denkbar sein.

Das ist der Stoff, aus dem unerträglich erfolgreiche Supermänner gemacht sind, denen aber meistens zwei Dinge abgehen, die eigentlich dasselbe sind und die Moers hat, näm­lich den Humor zu bewahren und transportieren zu können und dem Tod mit einfallsrei­cher Gelassenheit immer wieder entgegenzusehen. Normalsterbliche kommen da seltener hinein als ausgerechnet 13 Mal, aber beschäftigen tut es einen doch, und wie sollte man die wenigen Male in einem normalen Leben nicht bewältigen, wenn Blaubär das in Serie schafft. Wenn es einen kritischen Punkt gibt an diesem Buch, dann ist es der des Nicht­auf­hörenkön­nens, nicht seine Phantasie unentwegt blühen zu lassen, nicht an jedes be­standene Abenteuer ein neues reihen, nicht nach einigen hundert Seiten auch mal zum Schluss zu kommen. Und doch bedient gerade das einen tiefen Wunsch in uns, dass es nicht aufhören möge und wir immer wieder dem Tode entrinnen möchten und insgesamt wollen wir dabei auch noch gut unterhalten sein. Schon die Zwergpiraten, mit denen das Buch beginnt, fürchten nichts mehr als Langeweile, so wohl auch die meisten der Zwerg­le­ser, die eigentlich Erwachsene sein sollen.

Leserphantasie aufbohren

Die Kruste unserer Normalität ist bei fast allen beinern genug, dass Moers sich schon mal des Boschhammers bedienen muss, um darunter Reste des Urstoffs der Träume freizule­gen. Das wird besonders deutlich, wenn er zum Kunstgriff der Lügengeschichte in der Lügen­geschichte greift, als Blaubär dann nämlich in Atlantis ein Lügengladiator, natürlich ersten Ranges, wird. Da bleibt dem nach gehabter Erschöpfung seiner gesammelten Phan­tasie, die wohl als Phantasie in der Phantasie einzuordnen wäre, nichts weiter übrig als beinahe aufzugeben und das wieder in schöner Übereinstim­mung sowohl mit dem Leser als auch dem Autor, denen beiden nun rein gar nichts mehr einfallen wollte und man die ganze Sache auch schon ein bisschen leid war, als es so ungefähr in die 99. Runde des Duells ging. Da erzählt dann der Lügenchampion mit einem Mal die reine Wahrheit, nämlich seine eigene Lebensgeschichte, die uns bei dieser Gelegenheit noch einmal systematisch geordnet nach Unterhaltungswert vor Augen geführt wird und für uns fast schon langweilige Wahrheit, weil Bekanntes ist. Doch uuops – das war doch eigentlich auch eine Lügengeschichte, die wir jetzt als Wahrheit einzustufen nicht mehr anstehen. Dieses Klavier spielt Moers besonders gut.

Bildungsinhalte

In diesem Punkt ist der Klau kaum vermeidbar, vielleicht sogar wünschenswert. Zwar sind es nur Splitter der oben abgesprengten Krusten, aber man erkennt recht leicht an einer Stelle das Septalsystem eines Rudolf Steiner oder Bruchstücke dessen verehrten Vorgängers Johann Wolfgang von Goethe mit seiner verzweifelten Newtonreplik bezüglich des Lichtes, dem er die Finsternis zugesellen wollte als einigermaßen gleich­wertig. Wenn Physiker mit einem guten Dutzend Dimensiönchen hantieren, sollte man ihnen gleich mal die 2364. entgegenschleudern und sie mit der logischen Konsequenz von gennfgasum­witterten Dimensionslöchern konfrontieren. Ob Moers selbst mehr als den Staub von Bil­dungsplaque inhaliert hat, bleibt im Ungewissen. Fast jedes nachprüf­bare Versatzstück auf diesem Gebiet ist falsch. Wenn zum Beispiel die Chance den Gallert­prinzen nach des­sen Rückkehr aus besagter Dimension wiederzusehen 1 zu 463 Billiarden ist, so ist das nicht so unwahrscheinlich, wie unzählige Male hintereinander einen Sechser im Lotto zu haben, sondern schon drei Sechser hintereinander zu haben, ist unwahr­schein­licher. Wenn die Formel für die Entfernung einer Fata Morgana aus dem alles wissenden Lexikon in Bärleins Kopf stimmen würde, hätten Personen die Maßeinheit von m^2/s^3, wo man doch eher auf kg reflektieren würde, wenn man schon die freie Auswahl hat. Schließlich wür­de man beim Sturz in den lautmalerisch verbrämten Mahlstrom, wenn sich die Ge­schwindigkeit auf den letzten 200 Metern alle fünf Meter verdoppelt, sich nicht der Licht­geschwindigkeit nähern, sondern diese weit überschreiten.

Bei aller Liebe zur Philophysik – das ist nun mal keine Einbahnstraße.

Fazit

Moers leistet da eine wichtige Arbeit, indem er seine Phantasiewelt in unser Hirn lustvoll einzubrennen versteht. Das Paralleluniversum Zamonien weist eine wünschenswerte Vielfalt an mehr oder weniger intelligenten, mehr oder weniger großen und resistenten Wesen auf. Das Wissen spielt dabei eine Schlüsselrolle und sollte daher nicht völlig auf dem Altare des Nonsense verbluten. Man merkt dies leider an einem Hauch von, nicht Gennfgas, nein Provinzialität.

C.R. im Waltersdorfe 2.3.2012