Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW19

Inges Leben

 

Auf meiner Wanderschaft begegnete mir auch eine Dame, und als sie mein Vater mit „Enchantez madame“ begrüßte und ihr um ein Haar noch einen Handkuss gegeben hat­te, war sie so bezuckert, dass sie keine Sprit­ze mehr an diesem Tag brauchte und sie sag­te, das sei ihr in den ganzen 58 ½ Jahren ih­res Lebens noch nicht untergekommen.
Inge ist Kinderdiakonin und seit einigen Jah­ren gekündigt, weil sie erkrankte, und da sie weder Abschiedsgeschenk noch Abfindung bekam, hat sie ihren Kindergarten auch nicht mehr betreten, und das nun schon seit Jah­ren. Diesen hatte sie über die Wende geret­tet und nun ist er nicht mehr, der Kindergar­ten, aber Inge trägt sich mit einem Buchpro­jekt, wie viele der Bemühten und Beladenen.
Sie hat einen Sohn und trug einen zweiten (Martin) unter dem Herzen. Das war am 7. Oktober 1983. Das Kind war tot, aber sie muss­te auf ihre Operation noch Tage warten, bis man ausgefeiert hatte (Republikgeburts­tag). Dann wurde das Tote aus ihr entfernt und sie nach Hause geschickt und sie tat, als wäre nichts geschehen.
Als Erzieherin war sie nicht mehr tragbar, weil sie in der Klapper gewesen war, eine immerhin seltsame Behandlung bei einer Zuckerkrankheit. Mit drei harmlosen Tablet­ten täglich ging sie rein und verließ das Kran­kenhaus mit einer täglichen Dosis von fünf Spritzen.
Als ich sie treffe, hat sie gerade zwei nächtli­che Zuckerschocks hinter sich. Sie darf nicht rauchen und das ist ja sicher auch kein gutes Vorbild für die Kinder, aber darauf braucht sie nun keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wenn jemand in der Kaufhalle sagt: „Guck mal, da ist Tante Inge!“, sagt sie, sie kenne keine Tante Inge, sondern nur eine Inge und bald wird sie nur noch eine Großmutter Inge kennen.
Günter ist von Berufung Pädagoge, aber man verweigerte ihm die Ausbildung. Er musste sich alles allein aneignen. Auch das im Ansatz ein DDR Schicksal, dass sich aber nach der Wen­de seltsamerweise genauso fortsetzte, als hätte es gar keine Wende für ihn gege­ben. Ich zeige ihm ein paar Artikel im ND und er ist überrascht, was das für eine gute Zeitung ist. Nicht mehr das Zentralor­gan, sondern einfach nur sozialistisch.
Am nächsten Tag kaufe ich eine Märkische, weil man das ND nicht hat. Es gibt nur noch wenige, die zwischen Sensationsnebelvor­hän­gen und guter Presse unterscheiden können. Er war gerade nicht gut drauf und ich schenkte ihm die Zeitung, auf dass es ihm besser gehe.
Sternchen ist heute Nacht zusammengebro­chen. Ein epileptischer Anfall oder so etwas. Die Ärzte und mehrere Pfleger bemühen sich um sie. Sie wird für die Nacht auf ein Bett ge­schnallt (fixiert). Ich weiß nicht, ob es gut für Sternchen ist, aber als ich sie das nächste Mal treffe und ihr eine Fliederdolde schenke, ist sie fit, als wäre nicht gewesen.
Martina ist alleinerziehend und ihre Augen kön­nen richtig Fünklein sprühen. Ihre Tochter entdeckte selbst ihre Neigung zum Gitarre­spie­len. Der Frontmann von Sixx höchstper­sön­lich wählt ihr eine zwar teure, aber gut­klin­gende Gitarre aus. Die Tochter ist auch gut im Reitsport, aber das ist dann schon langsam das finanzielle Limit. Sie kann vielleicht auch bei der Pflege der Pferde helfen und darf dann vielleicht ab und an auch mal unentgeltlich reiten, aber ein eigenes Pferd, das geht nun beim besten Willen nicht.
Nun sind Sie dran, liebe Leser, raten Sie an welchem verwunschen Ort sich solcherlei Dinge zutragen, denen es an Dramatik nicht mangelt, die aber durch unsere Teilnahme auf wundersame Weise keinerlei dramatische Zuspitzung erfahren, sondern sich ohne Stress wie von selbst lösen.
Geben Sie ein feedback, Ihr Gedichtladen.

im Waltersdorfe 5.5.2012