Inges Leben
Auf meiner Wanderschaft begegnete mir auch eine Dame, und als sie mein Vater mit „Enchantez madame“ begrüßte und ihr um ein Haar noch einen Handkuss gegeben hatte, war sie so bezuckert, dass sie keine Spritze mehr an diesem Tag brauchte und sie sagte, das sei ihr in den ganzen 58 ½ Jahren ihres Lebens noch nicht untergekommen.
Inge ist Kinderdiakonin und seit einigen Jahren gekündigt, weil sie erkrankte, und da sie weder Abschiedsgeschenk noch Abfindung bekam, hat sie ihren Kindergarten auch nicht mehr betreten, und das nun schon seit Jahren. Diesen hatte sie über die Wende gerettet und nun ist er nicht mehr, der Kindergarten, aber Inge trägt sich mit einem Buchprojekt, wie viele der Bemühten und Beladenen.
Sie hat einen Sohn und trug einen zweiten (Martin) unter dem Herzen. Das war am 7. Oktober 1983. Das Kind war tot, aber sie musste auf ihre Operation noch Tage warten, bis man ausgefeiert hatte (Republikgeburtstag). Dann wurde das Tote aus ihr entfernt und sie nach Hause geschickt und sie tat, als wäre nichts geschehen.
Als Erzieherin war sie nicht mehr tragbar, weil sie in der Klapper gewesen war, eine immerhin seltsame Behandlung bei einer Zuckerkrankheit. Mit drei harmlosen Tabletten täglich ging sie rein und verließ das Krankenhaus mit einer täglichen Dosis von fünf Spritzen.
Als ich sie treffe, hat sie gerade zwei nächtliche Zuckerschocks hinter sich. Sie darf nicht rauchen und das ist ja sicher auch kein gutes Vorbild für die Kinder, aber darauf braucht sie nun keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wenn jemand in der Kaufhalle sagt: „Guck mal, da ist Tante Inge!“, sagt sie, sie kenne keine Tante Inge, sondern nur eine Inge und bald wird sie nur noch eine Großmutter Inge kennen.
Günter ist von Berufung Pädagoge, aber man verweigerte ihm die Ausbildung. Er musste sich alles allein aneignen. Auch das im Ansatz ein DDR Schicksal, dass sich aber nach der Wende seltsamerweise genauso fortsetzte, als hätte es gar keine Wende für ihn gegeben. Ich zeige ihm ein paar Artikel im ND und er ist überrascht, was das für eine gute Zeitung ist. Nicht mehr das Zentralorgan, sondern einfach nur sozialistisch.
Am nächsten Tag kaufe ich eine Märkische, weil man das ND nicht hat. Es gibt nur noch wenige, die zwischen Sensationsnebelvorhängen und guter Presse unterscheiden können. Er war gerade nicht gut drauf und ich schenkte ihm die Zeitung, auf dass es ihm besser gehe.
Sternchen ist heute Nacht zusammengebrochen. Ein epileptischer Anfall oder so etwas. Die Ärzte und mehrere Pfleger bemühen sich um sie. Sie wird für die Nacht auf ein Bett geschnallt (fixiert). Ich weiß nicht, ob es gut für Sternchen ist, aber als ich sie das nächste Mal treffe und ihr eine Fliederdolde schenke, ist sie fit, als wäre nicht gewesen.
Martina ist alleinerziehend und ihre Augen können richtig Fünklein sprühen. Ihre Tochter entdeckte selbst ihre Neigung zum Gitarrespielen. Der Frontmann von Sixx höchstpersönlich wählt ihr eine zwar teure, aber gutklingende Gitarre aus. Die Tochter ist auch gut im Reitsport, aber das ist dann schon langsam das finanzielle Limit. Sie kann vielleicht auch bei der Pflege der Pferde helfen und darf dann vielleicht ab und an auch mal unentgeltlich reiten, aber ein eigenes Pferd, das geht nun beim besten Willen nicht.
Nun sind Sie dran, liebe Leser, raten Sie an welchem verwunschen Ort sich solcherlei Dinge zutragen, denen es an Dramatik nicht mangelt, die aber durch unsere Teilnahme auf wundersame Weise keinerlei dramatische Zuspitzung erfahren, sondern sich ohne Stress wie von selbst lösen.
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im Waltersdorfe 5.5.2012