Habe ich mich doch gerade dem Bericht verschrieben, so dass ich Ausgedachtes schon fast für unmöglich hielt, belehren mich doch „Die Säulen der Erde“ von Ken Follett eines anderen. Er begibt sich nicht nur einfach in das Reich der Phantasie, sondern wählt auch ein historisches Gewand des 12. Jahrhunderts, von dem uns Quellen sagen, dass zu dieser Zeit noch nicht einmal die Sprache richtig entwickelt war und es um die Intellektualität wohl auch weithin dürftig bestellt gewesen sein dürfte. Da mag es problematisch scheinen, geistiges Futter für die Heutigen in ein solches Buch hineinzupacken, aber die Leser dankten es dem Autor und wählten das monumentale Buch mit einem Umfang von 1300 Seiten zu den vier beliebtesten Büchern der Deutschen.
Die historischen Hintergründe geraten im Buch erst langsam ins Blickfeld und spielen sich im Wesentlichen zwischen der Herrschaft Heinrich I. und dem des Öfteren aufbrausenden Heinrich II. ab, einer Zeit, in der König Stephan und Kaiserin Mathilde, die Tochter Heinrich I., miteinander rivalisieren, was zu dem Hintergrund eines Bürgerkrieges gereicht, in dem es auch ausgiebige Möglichkeiten für Loyalitätsbrüche und Intrigen gibt und in denen sich die Autarkie der Earls (Grafen) festigte. Die andere verbürgte Komponente ist die Rolle der Kirche zu einer Zeit, als die englische noch an das Papsttum gebunden war und eine nicht zu vernachlässigende Macht darstellte. Diese Macht war so stark, dass sie gar dem Königtum Konkurrenz machte, denn man konnte schwerlich König sein, ohne eine kirchliche Weihe dazu zu haben. So entspricht es auch der Geschichte, dass Thomas Becket im Zuge dieser Rivalitäten ermordet wurde und für Follett ist das eine Möglichkeit, dem Roman, der ansonsten eigentlich nicht viel auf historische Fakten baut, ein grandioses Finale zu geben, die einen mit den sonstigen Schwächen einigermaßen zu versöhnen versteht, denn zumindest ich möchte ja aus so einem umfänglichem Roman auch etwas lernen.
Die Landkarte war auch noch ein bisschen interessanter zu der Zeit, denn die Normandie im Norden Frankreichs gehörte noch zu England und sogar Cherbourgh als Herkunftsort rotschöpfiger Normannen gibt es heute noch und dieser Stadt wird in dem Roman eine Rolle zugespielt als Heimatort eines Spielmanns, der unfreiwillig in die höfischen Intrigen der Insel geraten ist. Der Aktionsradius des Romans ist aber noch größer und reicht hinunter bis Santiago de Compostela und Toledo und wieder zurück nach Paris, genauer Saint Denis, eine Route, die der Rotschopf Jack als begabter Steinmetz und späterer Baumeister abläuft und auf seinen Spuren etwas unwahrscheinlicher Weise Aliena, die verarmte Grafentochter mit einem Säugling folgt und ihn sogar wiederfindet.
Die dritte Zutat, aus der Follett den Roman mischt, ist die Architektur, denn das 12. Jahrhundert ist auch der Beginn der Gotik, die man eventuell etwas maurischer Baukunst zu verdanken hat, die heute noch leicht erkenntlich ist an den Spitzbögen, die eine höhere Bauweise ermöglichten und einherging mit einer Rippenbauweise, die die Massen der Gewölbe erheblich absenkte und lichte Konstruktionen erlaubte. In einem Roman nimmt es nicht Wunder, dass der verkrachte Jack just 1140 in Saint Denis ist, der Geburtsstunde der Gotik beiwohnt. Das Wesen der gotischen Architektur wird im Roman ganz gut erläutert und man könnte versucht sein, dies als das Wesentliche des Romans aufzufassen und eben in deren Säulen die Säulen der Erde zu sehen. Manchmal gerät das allerdings an die Grenzen des verbal Darstellbaren und man würde sich eher eine Zeichnung wünschen als die textliche Beschreibung einer solchen. Es wird auch beschrieben, dass damals die meisten, sogar gebildeten Menschen, mit einem Grund- oder Aufriss nichts anfangen konnten. So würde es vielleicht noch manchem Heutigen gehen, wenn der Autor zu diesen zeichnerischen Mitteln gegriffen hätte. Stattdessen lässt Follett einiges im Nebel verbaler Erläuterungen untergehen, was das Bestsellerpublikum wohl nicht weiter gestört hat.
Diese drei Ingredenzien, zuerst genannt, könnten den Eindruck erwecken, es ginge um die Vermittlung historischen Wissens. Nein, der Autor will natürlich persönliche Schicksale darstellen, in die wir uns hineinversetzen können. Sie sollen also einerseits modern sein und andererseits in eine Zeit versetzt, bei der freilich andere Dinge wichtig sind als Herrschafts-, geographische oder Architekturfragen.
In diesem Romansujet gibt es anständige und unanständige Gründe sich in eine so ferne Zeit zu versetzen:
Als anständiger wäre wohl zuerst die Not zu benennen. Gleich am Anfang sind wir mit der Familie des Baumeisters Tom Builder konfrontiert, die sich auf aussichtsloser Arbeitssuche befindet, nachdem ihnen ein Auftrag brüsk gekündigt wurde und sie bald tagelang ohne Essen auskommen müssen. Das hat sich wohl jeder schon mal vorgestellt und wüsste damit schwerlich zurechtzukommen. Toms Frau bekommt zu allem Überfluss noch ein Kind, das ausgesetzt werden muss, weil die Mutter bei der Geburt verstirbt und keine Aussicht auf Ernährung eines Säuglings besteht. Aber auch scheinbar wohlsituierte Personen, wie die Grafenkinder Aliena und Richard können nach dem Fall ihres Vaters in eine solche Situation kommen und während einer Hungersnot oder in Folge von Willkür kann es die namenlose Masse natürlich erst recht.
Weniger anständig ist schon die Reflexion der Gewalt, die damals angesagt war. Jeder, der mindestens einen Knüppel oder besser noch Rüstung und Schwert hatte, konnte relativ beliebig über Wehrlose verfügen. In den großen Schlachten, für die der Autor auch genug Seiten hat, ist diese Gewalt sogar legitimiert, weil sie politischen Interessen gilt. Vielleicht gibt es eine gewisse Sehnsucht nach dem Nervenkitzel der Gewalt, besonders wenn sie noch mit Sex kombiniert ist.
Bezüglich des Sexes spaltet sich der Autor in einen gewalttätigen und einen erotischen, und vielleicht sind diese beiden Seelen des Romans sogar in einer infantil geilen Phantasie vereint. Als Tom seine Frau verloren hat und sein Kind ausgesetzt, passiert nichts anderes, als dass es ihm eine rätselhafte und schöne Waldfrau besorgt, noch ehe er in seiner Erschöpfung überhaupt richtig mitmachen kann. Die Waldfrau Ellen hat auch ein Kind, Jack, mit dem oben erwähnten Rotschopf, der erst als recht dümmlich aussehend beschrieben wird, sich aber im Laufe des Romans als der Intelligenteste herausstellt, der als junger Mann dann die Grafentochter Aliena gewinnt und wir wieder ein paar erotischer Beschreibungen teilhaftig werden können, die sich im Wesentlichen auf Brüste sagenhafter Größe und Festigkeit beziehen, hartwerdenden Knöpfen und dem Eindringen in die Frau mit Hilfe von Fingern oder eben richtig in verschiedenen Positionen. Man kennt Folletts Frau ja nicht, aber mit Sicherheit hat er sich das Ideal der Aliena, die noch mit 50 unwiderstehlich gewesen sein soll, geschaffen, um seine heimlichen Gelüste zu befriedigen, wobei er sich noch aussuchen kann, ob ihm die lustvolle Aliena des Jack lieber ist oder die vergewaltigte durch William, eines Edelmanns, der vergeblich um sie gefreit hat und dann zu Macht über sie kommt. Man kann so tun, als gehöre das eben dazu und sei eben dem Thema Gewalt geschuldet, aber es muss schon einen psychologischen Grund geben, dass sich der Autor gern in solche Szenen hineinschreibt, wie wohl sicher auch in jedem Mann diese beiden Seiten schlummern.
Tom bekommt also tatsächlich dann den Auftrag eine Kathedrale für ein Kloster unter Prior Philip zu bauen, hat ein gutes Auskommen mit seiner Patchworkfamilie und selbst das Findelkind wächst romanhafterweise in seiner Nähe auf. Dann kommt Tom aber durch einen Gewaltakt um, die wieder auf das Konto des Hauptbösewichts William geht, sein aggressiver Sohn Alfred baut weiter, bringt die Kirche zum Einsturz und schließlich baut sie sein Stiefsohn Jack fertig, nachdem er noch eine kleine Weltreise engeschoben hat und die Geburt der Gotik miterlebte. Zum Schluss sind alle Guten glücklich und alle Bösewichter erledigt und Follett rettet sich in die besagte historische Dimension, um keine allzu arge Klamotte abzuliefern.
Wer will, kann sich auch noch zwei große Fragen stellen. Die erste wäre, warum es damals zu dieser Revolution in der Baukunst kam. Darüber wissen wir aber wenig. Die zweite ist, wie es sein konnte, dass in dieser rauen Welt von Sex und Crime eine gewaltlose Alternative überhaupt lebensfähig war, wie die Kirche und die Klöster. Aber der Leser ist nicht von vornherein philosophisch gestimmt und die Antwort kann wohl auch nur darin liegen, dass der Glaube eine bedeutende Rolle gespielt haben muss, auch wenn der Autor eher mit den Unorthodoxen sympathisiert, und gegen Ende des Romans scheint auch noch ein wenig auf, dass Religion damals schon ein gutes Machtinstrument war, das von den Herrschenden notwendig gebraucht wurde, um sich über Wasser zu halten. Dass dazu noch ein gerütteltes Maß an Aberglauben kam, scheint auch etwas am Rande auf, wenn gerätselt wird, ob bestimmte Schicksalsschläge wohl Ausdruck eines göttlichen Willens gewesen sein könnten.
Über weite Strecken ermüden einen vorhersehbare, platte Dialoge oder Begebenheiten, flüchtet sich der Autor in eine Länge, indem er mehrere Generationen überspannt, und wenn man bedenkt, dass man zum gründlichen Lesen des Romans so an die 40 Stunden braucht und man nicht ganz sicher sein kann, ob man das dem Verwirrspiel eines Autors darbringen soll, fragt man sich schon, ob Follett nicht lieber einmal bündig über sein eigenes Leben schreiben sollte, über seine Religiosität, seinen Sex und seine Gewaltvorstellungen und man dann eher Bescheid wüsste, ob er den Podest verdient, auf dem er zu stehen scheint. Mir jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, dass die großen Themen nur dazu dienen, die kleineren zu überdecken und wenn er wahrhaftig sein müsste, was seine eigene Einstellung anbelangt, etwas ziemlich Dürftiges übrigbliebe.
C.R. im Waltersdorfe, den 18.7.2012