Als ich mein Buch „Klarheit und Wahn“ an einen Verlag bringen wollte, erhob sich die Frage, wie die Konkurrenzsituation ist, inwiefern sich diese Arbeit also von anderen Büchern unterscheidet, die sich mit Geisteskrankheit beschäftigen. Ich rief also Kerstin an, die schon seit Jahren in einem Pflegeberuf tätig ist und erzählte von meiner Abfuhr beim Antipsychiatrieverlag. Sie fragte mich, ob ich denn schon ihre Namensvetterin Kerstin Kempker kennen würde, die offenbar einiges zum Verlagsprogramm beigetragen hat und ihre Lebensgeschichte im Buch „Mitgift“ niedergelegt hätte, das sie auch zu Hause hat und ich mir gern borgen könnte. Unsere Kerstin hatte an diesem Tag frei, ich habe ja immer frei und so war ich wenige Stunden später bei ihr, brachte mein eigenes Buch mit und fuhr bewaffnet mit zwei Büchern von Kerstin Kempker zurück.
Ich habe nicht gerade eine Affinität für solche Literatur, von der ich einfach mal behauptet hatte, sie sei niederdrückend und entbehre nicht selten der Herzenswärme. Noch seltener wäre die Demut zu finden. Einem Heer von bezahlten Hilfskräften, wozu man Ärzte, Pfleger und Sozialarbeiter rechnen kann, stehen die Betroffenen gegenüber, die sich inzwischen als psychiatrieerfahren bezeichnen, was anzeigen soll, dass sie sich nicht beschaulich oder auch wissenschaftlich mit einer Materie beschäftigen, die mit Geisteskrankheiten zu tun hat, sondern dass sie selbst „drin“ waren, dass sie etwas relativ Heldenhaftes durchgestanden haben und deklassieren ein bisschen die Leute, die eben noch nicht „drin“ waren.
Kerstin kommt mit siebzehn Jahren in die Psychiatrie, angeblich auf ein Tagebuch hin, das die Mutter findet und in dem sie Selbstmordgedanken geäußert hatte. Zunächst erlebt sie in der Uni-Klinik Mainz die Ende der siebziger Jahre noch übliche Insulintherapie, bei der man in eine gewollte Unterzuckerung versetzt wird, in einen komaähnlichen Zustand und noch dazu mit Elektroschocks behandelt wird, was einigermaßen gruselig ist. Zusätzlich gibt es einen Cocktail der damals verfügbaren Neuroleptika, also ruhigstellender Medikamente, die einen in einen apathischen Zustand versetzen und was eine heute noch übliche Behandlungsmethode darstellt. Als sich kein Erfolg einstellt, kommt sie in eine Privatklinik nach Kreuznach in der Schweiz und ist dort eine der schwierigsten Patienten, die jede Gelegenheit nutzt, um zum Beispiel mal aus dem Fenster zu springen oder zu versuchen, sich von einem Zug die Beine abfahren zu lassen, dass sie ein Krüppel würde.
Als idealen Zustand empfindet sie, als sie nach dem Fenstersturz und mehrfachen Beckenbrüchen wochenlang das Bett hüten musste, ausgiebig schlafen konnte, gewaschen wurde und selbst die Notdurft im Bett verrichtete. „Nun verwöhnt mich mal richtig, ich werde es euch nicht danken“, mag sie gedacht haben, als sie der Pflege und Zuwendung einer Armada von Personal teilhaftig wurde, die ja immer freundlich und wohlmeinend sein müssen, weil es ihr Job ist und ihr etwas für die 200 Franken täglich bieten müssen. Wenn man bedenkt, das heute ein Tag in einer Allerweltspsychiatrie 230 Euro kostet, bekommt man ein Gefühl dafür, dass sich auch unser Gesundheitswesen inzwischen besser als die Schweizer Ende der siebziger Jahre zu bedienen weiß.
Die junge Frau macht es sich also zum Lebensinhalt, der Umgebung, die sie wohl aus ethischen oder einfach Gewohnheitsgründen unbedingt am Leben halten möchte und wohl auch zu heilen versucht, diese Pflege so schwer wie möglich zu machen. Selbst die zahlenden und getrennt lebenden Eltern gehören zu diesem Feindbild und auch die Mitpatienten, die nicht über ihre Talente verfügen, werden davon nicht ausgenommen. Kerstin hat nämlich zwei Talente: Sie kann mit einem poetischen Einschlag schreiben und sie kann zeichnen. Daraus lässt sich schon eher Kapital schlagen, als wenn man eine Patientin ist, die sie hasst und die immer nur lamentiert: „Wie ist das nur möglich, wie ist das nur …“.
Ja wie ist es nur möglich, dass Schreib- und Zeichentalent ausreichen, um sich über alle Mitpatienten, Ärzte, Psychologen und Helfer hinwegzusetzen und ihnen entgegenzuschleudern, dass sie diese Starpatientin nicht verstehen. Sie braucht zwanzig Jahre, um die drei Jahre und drei Stationen Psychiatrie zu verarbeiten, denn, nachdem die Krankenkasse den Schweizaufenthalt nicht mehr bezahlen will, kommt sie noch ins Lüneburgische nach Häcklingen, wo man die Gestalttherapie betreibt, wohl einer der letzten Versuche philosophische Kopfgeburten auf Betroffene loszulassen. Da hat sie in ihrem Bericht sicher vieles gemildert, das sich ansonsten als Bild einer ausgemachten Egoistin darstellen würde, die diffus im Widerstand ist, die ein Trümmerfeld hinterlässt (Eine Klinik stürzt später ein, eine andere wird geschlossen, Mitpatienten nehmen sich erfolgreicher als sie das Leben) und dann noch ihre Akten anfordert, um zu sehen, ob das Personal in seinen schriftlichen Äußerungen auch demütig genug war. Das alles trägt ihr bei mir keine Sympathien ein, auch wenn man als Patient immer ein bisschen dazu neigt, in die Ärzte und Therapeuten ein Feindbild zu konstruieren. Der liebe Gott meinte es aber besser mit ihr, indem er ihr einen Schutzengel beistellte, der nicht nur alle Selbstmord- und Verstümmelungsversuche vereitelte, sondern ihr wohl auch die Talente schenkte, die ihr anschließend erlaubten auf die Helferseite zu wechseln, das Weglaufhaus in Berlin zu betreuen und ein Starautor des Antipsychiatrieverlags zu werden.
Diese ganze Individualrevolution, die gegen professionell deformiertes Mitgefühl aufbegehrt und deren größte Heldentaten darin bestehen, die ganze Abteilungsration an Neuroleptika auf einmal zu verschlucken oder unsäglich faul zu sein, kann nur im Verschleiß dieser wohlmeinenden Absichten, jemandem helfen zu wollen, endigen. Wenn sie nun selbst ein solcher Helfer sein sollte, der ebenfalls bezahlt wird, kann das im Kontrast dazu nur zu Kitsch geraten und demzufolge hält sie sich in der Beschreibung ihrer Wendung zu dieser Seite zurück. Ich neige eher dazu, auch die Patienten zu schätzen, denen nichts weiter über die Lippen kommt, als das Lamento: „Wie ist das nur möglich.“ In die doch so fragliche Professionalität schaffen es nur Leute, die einen Egoismus an den Tag legen, gegen den aufzubegehren sich nun wirklich lohnen würde. Der Aspekt, der Gesellschaft zu dienen, ist verloren gegangen und diejenigen, die ihr Bestes geben, aber eben nicht so konziliant damit umzugehen verstehen, geraten ins Hintertreffen. Wie kann man mit dieser Kälte im Herzen, mit dieser mangelnden Selbstbeherrschung und solcher Ungezogenheit sich dann an die Schalthebel der alternativen Psychiatrie setzen? Eher sollte man in ein Kloster gehen und Gott für seinen Schutzengel Dank entbieten.
C.R. 11.8.2012
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