60 000 Homere
„Die Nudistinnen sind die törichsten der Frauen“ resümierte der inzwischen 90jährige Ernst Nolte nach einem Besuch des östlichen Ostseestrands. Trotzdem ist er noch nicht zum absoluten Kulturpessimisten geworden. Man bezeichnet den Verlassenen als gewesenen Historiker und eigentlich ist er auch eher ein Philosoph, denn er hat eine starke Neigung zum Spekulieren.
Sein Buch „Späte Reflexionen“ ist wohl die Summe seiner Ansichten, die im Kern recht lobenswert sind, denn als Professor für jüngere Geschichte hat er sich die Aufgabe gestellt, dem Faschismus in Deutschland auf wissenschaftlichem Wege nicht nur das Böse abzugewinnen, sondern die Vorgänge im dritten Reich, wenn nicht verständlich, doch wenigstens verstehbar zu machen.
So war Hitler, der nach Meinung der meisten Europäer immer noch besser gewesen sein soll als Kommunismus, ein Kämpfer gegen die „Transzendenz“. Transzendenz ist etwas Übersinnliches, aber auch ein Übersichhinauswachsen, etwas Ausgreifendes – auf jeden Fall ein gängiger philosophischer Begriff, weniger ein historischer. Man könnte nun meinen, dass der Nationalsozialismus selbst einiges Ausgreifendes hatte, aber über den „kausalen Nexus“, also einen ursächlichen Zusammenhang gelangen wir zum Kommunismus, auf den der Nationalsozialismus lediglich eine Antwort gewesen sein soll.
Einem dürren Faden folgend konstatiert er, dass am Nazi-Slogan „jüdischer Bolschewismus“ etwas dran war, denn tatsächlich waren viele der Oktoberrevolutionäre ihrer Abstammung nach jüdisch. Sie waren es aber nicht mehr, als Marx vom Blute her Jude war, und ihm hält Nolte ja immerhin zugute, dass er den Judenhass in Kapitalistenhass gewendet habe.
Da haben wir also die Erschießung von Kulaken unter Lenin, den Gulag und schon wird klar, dass es nur eine verstehbare Verirrung war, die Juden gleich mit Stumpf und Stiel ausrotten zu wollen und wir das unsägliche Auschwitz hatten, wo man als Historiker noch sinnen darf, ob dort vier oder nur anderthalb Millionen vergast wurden. Handelte es sich also wirklich nur um ein „Überschießen“?
Für einen Philosophen zu simpel, für einen Historiker zu gewagt. So könnte man die Tragik von Nolte umreißen, der trotz eines gewissen Sympathiepotenzials nach dem Historikerstreit in die Isolation geriet.
Hätten wir jetzt Kommunismus oder wenigstens Sozialismus, würde es vielleicht die von Charles Fourier vorhergesehenen 60 000 Homers geben, aber haben wir nicht. Auch Nolte ist kein Homer, denn er erzählt keinen Mythos, theoretisiert viel mehr und es bedarf schon des Angedenkens an einen guten Freund, die vielen Seiten des Kreiseziehens um immer wieder die gleichen Begriffe zu ertragen, das einem die gewagte Konstruktion nicht wahrscheinlicher erscheinen lässt, aber einen immerhin in dem Gefühl zurücklässt, dass man selbst, wenn auch vom Blute Deutscher, wie manche Kommunisten vom Blute Juden waren, vielleicht doch kein Erbe des absolut „Bösen“ sein muss.
Selbst Hitler wollte es den Kommunisten in der Attitüde nachtun und ein „Antibolschewist von bolschewistischer Tatkraft und Entschlossenheit“ sein. Tatkraft und Entschlossenheit, die also damals schon legendär waren, sind irgendwie verlorengegangen, wohl auf beiden Seiten. Noltes „letztes Wort“, für das er die späten Reflexionen hält ist schon durchtränkt von der Hoffnung auf eine Anerkennung in der Nachwelt, wenn denn sein Kulturoptimismus zutrifft.
Christian Rempel,
Im Waltersdorfe 17.2.2013