Der Gedichtladen

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Kolumne KW19 „Zerreißprobe 2“

Zerreißprobe 2

 

Die feinen Drähte, oder eigentlich sind es filigrane Bänder, an denen die Drehwaagen für den Gravitationsversuch aufgehängt sind, sind sämtlich abgerissen. Das soll angeblich ein Transportschaden beim Umzug von Lichtenberg gewesen sein, doch wie viele Jahre ist das schon her?


Diese Bändchen hatten also die Zerreißprobe nicht überstanden, aber das Ganze wieder in Ordnung zu bringen, kann einen schon ganz schön innerlich zerreißen. Nachdem wir die Sache also analysiert hatten und es noch Freitagvormittag war, stellten wir fest, dass wir zwei Teflonscheiben und zwei kleine Bohrungen brauchen. Wir bringen die Teile also gegen 11 in die Werkstatt, die freitags immerhin noch bis 14 Uhr arbeiten sollte und in der es nicht gerade hektisch zugeht. Vielmehr hat man den Eindruck, dass dort gar nichts läuft. Als erstes kommt die Frage nach den Papieren und als diese beigebracht waren, fing man immer noch nicht an, sondern sagte, man würde sich melden, wenn die Kleinigkeiten fertig sind. Das fand dann an diesem Freitag nicht mehr statt und ich musste unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren.

Dann ist da noch das neue Jugend forscht Projekt. Es müsste eigentlich dringend was daran gemacht werden und wir brauchen ein Raytracing. Dir Jugendforscher erklärten, dass man damit in den nächsten drei Wochen nicht anzufangen gedenkt und mit dem Raytracing sieht es nicht viel besser aus. Also ist man auch dort zum Leerlauf verurteilt und zerreißt innerlich, weil andere schon weiter sind.

Dann ist da noch eine Familienfeier. Keiner ist unter den Anwesenden, dem man auch nur andeutungsweise erklären könnte, was einen gerade bewegt. Das ist nicht nur die Einsamkeit in einem Spezialgebiet, wie es die Physik darstellt, man kann auch nicht erkennen, was die anderen so umtreibt. Dabei ersehnt man eine Zerstreuung derart, dass man erfährt, was die anderen gerade bewegt. Eigentlich hätte man ein Gedicht vortragen müssen, das natürlich den Effekt hätte, dass die anderen belächeln, wie sich da einer abmüht. So bleibt man in seiner inneren Zerrissenheit allein, man macht sich ganz klein und wartet, was die anderen wohl so zu erzählen haben, aber da ist nichts.

Auf der Rückfahrt von der Feier versuche ich darüber mit meinem Sohn ins Gespräch zu kommen. Für ihn war das alles ganz ok. Da er mich auch nicht übermäßig ernst nimmt, rät er mir, doch mal den Urlaub von der geistigen Tätigkeit zu genießen. Dabei ist er selbst gerade zerrissen, weil seine Prüfungen besser laufen als das ganze bisherige Schulleben und während sich die anderen zu nichts entschließen und einfach noch ein paar Jährchen weiter in der Schule sitzen bleiben, hat er eine Lehrstelle angenommen. Aber die Notbremse will er auch nicht ziehen und vielleicht mit seinem zukünftigen Ausbilder noch einmal reden. Also dann auf ins Berufsleben und sei es in innerer Zerrissenheit.

Dann gehen noch einige Krankmeldungen bez. der Seminarvorträge im Physikkurs ein. Die Sache ist schon einigermaßen schwierig, aber dass es gleich auf die Gesundheit schlägt, so stark kann der Druck nun auch wieder nicht sein.

Wahrscheinlich empfinden die Studenten die Physik auch als eine Zerreißprobe. Vielleicht kommt der Spaß ein bisschen zu kurz. Dabei gibt es nichts Schöneres als eine Sache ausgerechnet zu haben, die dann auch funktioniert. Dieses Erlebnis würde ich noch gern weitergeben, bevor ich mich dreinschicke.

Christian Rempel im Waltersdorfe
11.5.2014