In die Ferien bekam ich den Rat mit, mir mal einen Film anzusehen „In achtzig Tagen um die Welt“ von Jules Verne, denn wir hatten ja das Problem mit dem Datum behandelt, das sicher nur einer Minderheit klargeworden ist und mich selbst einen Tag lang beschäftigt hat, bis ich es überhaupt vermitteln konnte. Ich habe diesen Versuch seitens der Schüler, ein wenig über meine Freizeit zu verfügen, was doch der Physikunterricht ohnehin schon mit sich bringt, für mich so übersetzt, dass ich ja auch das Buch lesen könnte, was meinen Neigungen mehr entspricht, als sich anzusehen, was andere als short message daraus gemacht haben.
Zwei Schüler hatten das Buch wohl auch gelesen, wobei der Eindruck trotz ihrer Jugend schon so verblasst war, dass man sich weder an Protagonisten noch an die Reiseroute recht erinnern konnte. Zwar haben wir uns dann auf die Richtung einigen können, in der man gereist sein müsste, wenn man nach der eigenen Zählung schon einen Tag weiter ist als das Ortsdatum, nämlich ostwärts, aber das war es dann auch.
Als ich nun gestern anfing, das Buch zu lesen, was ja auch einem gewissen Zeitregime unterliegt, da hoffte ich, da es mich stark fesselte, diese Achtzigtagereise in fünf Tagen zu schaffen und bis zum Schicksalsdatum des Protagonisten Phileas Fogg, den 21. Dezember, auch die Lektüre abgeschlossen zu haben. Das Tempo des Romans ist aber weit höher. Oft schmelzen ganze Ozeanüberquerungen von vielen Tagen zu wenigen Sätzen zusammen und Verne konzentriert sich voll auf die manchmal wenigen Stunden, die über das Ganze entscheiden.
Klar ist, dass in dem Roman keine wesentliche Zeitdifferenz eintreten kann, zugunsten des Weltreisenden nicht, weil er ja schon auf ein Optimum gewettet hatte und auch nicht zu seinem Nachteil, weil dann die ganze Spannung dahin wäre, könnte doch dann selbst ein im Fortgang optimaler Verlauf der Reise die Sache nicht mehr ins Lot bringen.
Was nun war jener Phileas Fogg für ein Engländer? Sein Tagesablauf war monoton, wie der eines Chronometers. Täglich ging er halb zwölf aus dem Haus in den Reform Club, ohne je dabei einen Schritt zuviel zu tun. Dort galt er als leidenschaftlicher Zeitungsleser, genau wie sein Erfinder Jules Verne und spielte bis Mitternacht Whist. Gemütsaufwallungen scheinen ihm völlig fremd, wir erleben ihn die ganze später turbulente Geschichte lang nicht einmal ausrastend, und trotzdem ist ihm eine ziemliche Konsequenz eigen, so dass er seinen Diener entlässt, weil er das Rasierwasser auf nicht viel mehr als ein Grad zu wenig erwärmt hatte, als ihm vorgeschrieben war. Sein neuer Diener französischer Herkunft, Passepartout, macht sich im Verlaufe der Handlung ziemlich drastischer Vergehen schuldig, ihn aber weiß er zu schätzen. Alles deutet darauf hin, dass sich unter der unerschütterlichen Fassade des Gentleman Fogg ein großzügig denkender und durchaus handlungsfähiger Mensch verbirgt. Schon seine unvermittelte Abreise auf die Wette hin, wo er keine zwei Stunden säumt, kurzerhand, ohne spezielle Vorbereitungen, die Weltwettreise anzutreten, setzt einen in Erstaunen.
Jules Verne muss die Engländer wirklich sehr geschätzt haben, wenn er einem solchen Musterexemplar einen französischen Diener beistellt, mit dem Fogg ein Gespann bildet, wie Don Quichotte mit Sancho Panza, nur dass eben die Zeiten vorbei waren, wo sich ein solches Gespann lächerlich machte, sondern wo bereits happy end angesagt war, von dem man natürlich von Anfang an weiß, weil der grundsätzliche Inhalt des Buches ja bekannt ist, aber man kann sich doch desöfteren fragen, wie der Autor aus den sich auftürmenden Schwierigkeiten wieder herauskommen will.
Ohne Passepartout allerdings würden wir einen Herrn auf der Weltreise begleiten, der nicht viel sagt, dem Städte und Landschaften fast egal sind, der nur leidenschaftlich Whist spielt. Ohne Passepartout wäre es auch nicht gelungen, die schöne Aouda aus den Fängen religiöser Eiferer in Indien zu befreien und sie wäre neben der Leiche ihres Gatten bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Ohne ihn hätte sich auch nicht der Polizeiinspektor Fix an die Fersen der Reisenden heften können und ohne diesen wiederum hätte es keine Verhaftung gleich bei der Rückkunft nach Liverpool gegeben, die dann alle, mit bereits am Rande der Legalität befindlichen Mitteln, durchgeführten Bemühungen scheinbar endgültig zunichte gemacht haben. Die Idee, ein Schiff zu kapern und dann auch noch zu verheizen, um genug Dampf für die Überfahrt zu haben, würde bei anderen Autoren allein schon hinreichen, einen Roman zu verfassen, aber hier finden wir gleich ein Dutzend solcher originellen Einfälle, die nicht viel gemein haben mit der schlichten Zeitungsberechnung, dass ab nun die Möglichkeit einer Weltumrundung in achtzig Tagen als schlichte Gegebenheit anzunehmen ist.
Ein Deutscher kommt in diesem Roman nicht vor und das nimmt auch nicht wunder, denn der vorangegangene deutsch-französische Krieg hatte den Autor in große psychische Qualen gestürzt. Der Roman erschien ja im Jahre 1873 und war wohl Jules Vernes größter Erfolg. Man spricht auch von naturwissenschaftlicher Literatur, die er ins Leben gerufen hat und man braucht nur an das Zeitalter zu denken, um das zu unterschreiben. Dass er die Technik allerdings verherrlicht hätte und den Menschen und die Natur aus dem Zentrum genommen, kann man von ihm nicht sagen. Der Roman hat zwar nicht so viel Tiefgang, wie das Beste, was wir bisher gelesen haben, aber wir erwiesen dem Autor ja bereits im Abbe die Referenz, als an dieser Stelle sein Roman Erwähnung fand. Seltsamerweise starb Jules Verne auch im gleichen Jahr wie Abbe, 1905, nur zwei Monate nach ihm, aber da hatte er im Gegensatz zu dem Deutschen schon 77 Jahre gelebt.
Eine Aufnahme in die Académie française blieb Jules Verne versagt und auch Abbe hat keinen Nobelpreis bekommen. Trotzdem waren beide sehr erfolgreich, so dass man tragische Ausgänge mit Hybris, retardierendem Moment und solche Dinge langsam über Bord werfen konnte und wir einer Zeit entgegengehen konnten, in denen ein Dan Brown oder andere Amis, die mir jetzt nicht gleich beifallen möchten, den Ton angeben und man vom deutschen misepetrigen Wesen schon fast gar nichts mehr hört. Bleibt nur, uns noch ein bisschen zu mucksen.
C.R. 18.12.2010