Nun ist es auch Zeit zu sehen, was so die Zeiten überdauert hat an Literatur, die nach dem Großen, den die Großnasen hier einfach den Mann nennen, überdauert hat. Dass Herbert Rosendörfer einer der brillantesten deutschsprachigen Autoren ist, möchte man nach den ersten Seiten seiner „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ sogleich unterschreiben. Es könnte auch heißen: aus der chinesischen Vergangenheit, denn daher kommt ja der Mandarin Kao-tai, den der Autor vermittels nicht näher beschriebener Zeitmaschine auf einer Isarbrücke anlanden lässt, wo er fatalerweise gleich fast von einem A-tao überfahren wird und unmittelbar Bekanntschaft mit den Schergen des Obermandarins von Min-chen macht.
Damit ist der Autor gleich im ihm vertrauten Sujet der Rechtspflege angekommen, denn er selbst ist von Beruf Richter, die „drüben“ scheinbar chronisch unterbeschäftigt waren, wie man es ja auch von Bernhard Schlink kennt, der doch sogar Verfassungsrichter war. Deren Realitätsüberdruss ist stark genug, dass es sie in teilweise fremde Gedankenwelten treibt, sie Recht und Unrecht unkonventionell beleuchten. In der Gestalt des vor tausend Jahren lebenden und mal eben angereisten Kao-tai kann man endlich mal darüber nachdenken, ob das Köpfen nicht die wirksamere Bestrafungsform war, wenn die jetzige Laschheit in diesen Fragen auch keine besseren Resultate zeitigt.
Nach dem Feuerwerk des Anfangs, wo man erfährt, dass Kao-tai nicht nur mehrere Frauen hat, sondern auch noch Konkubinen, Diener sowieso und der Held trotz der vielen Eindrücke durchgehend die Souveränität behält, dass er ja eigentlich aus einer besseren Welt kommt, nachdem man also eine Weile atemlos gestaunt hat, wie wenig unsere ganzen technischen Errungenschaften doch eigentlich wert sind, wo wir doch dagegen die Ordnung und Besonnenheit verloren haben, wird leider aus dieser amüsanten und lobenswert fremdartig-frischen Betrachtungsweise zunächst eine voluntaristisch politische, dann mehr und mehr eine sexlastige und zum Schluss nur noch altväterliche Sicht auf uns selbst.
Gern liebäugelt man natürlich damit, mehrere Frauen sein eigen zu nennen, würde dafür vielleicht sogar auf A-taos, Fern-Blick-Maschinen und Musik-Teller-Geräte verzichten und dass man in einem minchener Sexclub nackte Damen betrachten kann, die Tischtennisbälle oben verschlucken können und sie aus ihren Juwelchen wieder herauspolken, ist interessant genug, um sich ausgiebig daran festzuhalten. Aber man lebt auch in der Jetztzeit nicht gerade in einem sexuellen Notstandsgebiet, sondern einige großbusige Damen finden sich selbst im zivilen Bereich, die auch einen alternden Mann aus dem Reich der Mitte nicht verachten.
Natürlich lernt dieser Altchinese viel zu schnell deutsch, dass der Autor versuchen kann, den niederen Instinkten etwas intellektuelles Futter entgegenzusetzen, wobei insbesondere die Musik eines We-to-feng positiv in Erscheinung tritt. Aber eben Musik in einem Buch zu beschreiben, ist immer ein schwieriges Unterfangen. Immerhin liest Kao-tai zwischen seinen Liebesabenteuern dann auch einen kleinen Kanon von Weltliteratur deutschen Ursprungs und bildet sich auch flugs eine Meinung zu den uns geläufigen Autoren, die aber nicht immer ganz leicht zu entschlüsseln sind.
Grund zum Bleiben ist das alles nicht und so mag es auch manchem Asylanten aus dem Busch gehen, der vermeinte hier eine auskömmliche Welt zu finden. Dieser wird wohl ohne Hungergefühle auskommen (unser Chinese dagegen ist ja gut ausgestattet mit Silberschiffchen von beträchtlichem Wert), aber Nahrung für die Seele, wozu es doch gar keiner hochstehend kultivierten Kultur bedarf, kann er kaum erwarten. Immerhin findet Kao-tai einen Intellektuellen, der ihn beherbergt, ihm die Sprache beibringt und in diese dürftige Gesellschaft einführt, aber das kann man nun fast schon etwas zum Phantastischen zählen, in dem ja der Autor vorwiegend zu Hause sein soll. Dass man es mit genügend Knete in München ganz gut aushalten kann, erscheint dagegen so wahr wie realistisch.
Man möchte dem geschätzten Autor nach 25 Jahren seit dem Erscheinen dieses Buches zurufen: Nehmen Sie es sich noch einmal vor, führen Sie diese große Idee zu einem glanzvollen Ende! Über die politischen Einschätzungen, die heute etwas plakativ wirken, ist die Zeit hinweggegangen, die moralischen Einschätzungen sind im Original so unscharf und vage, dass man sich philosophische Anspitzung wünscht, und wenn alles nichts hilft, könnte man eine Novelle daraus machen – das spart dann Zeit.
C.R.9.2.2011