»Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.« Goethe
Lest bloß keine Kommentare über Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W., sie sind alle gezinkt, ausufernd bis zur Besoffenheit und werden der Sache nicht gerecht. Es sind nur die Westaffen, die sich darauf stürzen und natürlich kein Wort davon verstehen, was sie mit Kommentaren zukleistern. Da ist Charlie, die Angebetete, überheblich und distanziert und hat sich natürlich diesem Kerl Edgar Wibeau gar nicht hingegeben. Ihr Mann Dieter, ja, er sei ein Spießer, dabei ist er nur ein bisschen überhöht, wie alles in dieser erfrischend bündigen Arbeit.
Den Werther kennt jeder, schon weil Lehrstoff, und sein sozialistisches Pendant denkt gar nicht daran, seiner Sehnsucht zum Tode stattzugeben. Es hat sie gar nicht. Man gräbt sogar den Lukazc aus, der mit intellektuell fickrigen Fingern in Stalins Moskau das Pflänzchen der Kultur setzen wollte. Man besingt die hohlen Donner der Kanonen der Kulturpolitik, die allgegenwärtig gewesen sein soll, in deren Schatten aber auch solches gedieh. Bürokraten sie selbst, mit gekupferten Doktorwürden. Sie alle wollen uns jetzt erklären, wie wir das zu verstehen haben.
Wir selbst sind Kinder dieser verbrannten Erde, auf der etwas hervorbrach, von dem sie sich doch so gar keine Vorstellung machen können. Sie wissen selbst gar nicht, wie wenig ihnen von diesem hehren Gut Freiheit übrig ist.
Sie tragen diesen Gammler vor sich her und wollen auch aus ihm einen Widerstandskämpfer machen, einen, dem sie selbst kaum gewachsen sein würden, weil er nämlich gar nicht politisch ist, auf das sie sich beschränkt immer wieder fixieren, sondern es ein Sujet ist, dass der großen kulturellen Leistung des Großmeisters das Wasser reichen kann. Edgar ist eben weder ein Aufschneider noch ein Arbeitsscheuer, sondern ein Mensch, der seine Würde zu wahren weiß, auch wenn er noch blutjung ist. Und das funktioniert, sowohl in der hinreißenden Beziehung zu der etwas älteren Kindergärtnerin mit ihren Augen-Scheinwerfern, die beim Hinsetzen mehr den Rock als die Konventionen schont und, das lassen Sie sich gesagt sein, es nicht bei dem Kuss bleiben ließ. Bemüht doch eure Phantasie ein bisschen, das ist doch klar wie Kloßbrühe, Leute.
Edgar ist wirklich nur das Opfer eines Unfalls, eines unreifen intellektuellen Konstrukts, denn der arme Plenzdorf konnte doch diese nebelfreie Anstreichmaschine selbst nicht erklären oder auch nur ausdenken. Und es gibt nicht nur die sagenhafte Charlie, es gibt auch eine Arbeitswelt mit dem weisen Old Zaremba, die vollkommen den Arbeitern gehört, dem Kollektiv. Alles unvorstellbar heute. Die Zeiten einer Werther Adaption sind gründlich vorbei, denn Berlin ist genau wie Mittelberg: Alle sitzen vor der Röhre.
Überhaupt ein Wunder, wie einem dieses Buch nach längerem Suchen nach Brauchbarem in dieser vermöhlten Thalia Buchhandlung in die Hände fallen konnte. Was dort an Glitzer rumliegt, soll einen, wenn man die Röhre durchschaut hat, in die nächste gucken lassen. Gut vorgebaut habt ihr da. Man wundert sich, dass man das ohne Erklärung überhaupt noch versteht und einen fast gar nicht krank macht. Diese Sprache ist uns inzwischen fremder und neuer, als was Old Goethe zu Papier gebracht hatte, als er damals seine Werther Pistole zog.
Da hat sich 1970 einer verdammt nichts angemaßt, sondern konnte was. Salute Kamerad!
C.R.24.2.2011