Oh Musen, lasst mich schweigen
Könnte man selbst, als Kundiger und Fühlender, den deutschen Buchpreis verleihen, er käme keinem anderen als Hans Pleschinski zu, für sein Werk „Wiesenstein“, einer Destille der historischen Wahrheit, die Jahrzehnte benötigt hat, das Geschehene zur hochprozentigen Wahrheit werden zu lassen und uns in eine Welt des vergehenden Luxus eines Musentempels, den Wiesenstein, im Riesengebirge führt, ehemals dem deutschen Schlesien angehörig und Wirkungsort des Dramatikers und Dichters Gerhart Hauptmann. Bei aller Verstrickung verdient, kann sich der Nobelpreisträger in dem von ihm selbst erbauten Anwesen mit seiner Entourage umgeben und zum Kriegsende und darüber hinaus ein kulturelles Leben aufrecht erhalten, das sich im Wesentlichen von seinen eigenen Werken nährt, die umfangreich und gut sind, und die man sich immer wieder vorlesen kann. Goethe hatten wohl er und auch der sogenannte Dr. Spitz (Thomas Mann in Amerika) ihren Wohlstand zu verdanken, denn jener trat seinerzeit dafür ein, dass die Urheber geistiger Werke auch ihren Anteil hatten an jeglichen Nachdrucken und es somit zu Reichtum bringen konnten. Man möchte das legitim erworben nennen. Ist doch eine Vergütung nichts weiter als gesellschaftliche Anerkennung, und auf den Prüfstand des Gefallens, der Ergiebigkeit für die Seele hatten alle Künstler ihre Werke zu stellen, und in diesen Versuchen waren sowohl Erfolge als auch Gezisch zu ertragen.
Es war ruhig geworden um Gerhart Hauptmann in der Gegenwart. Seine sozialen Werke hatten mit dem Untergang des Sozialismus keinen Bestand mehr, seine religiösen Attitüden passen auch wenig in die heutige Zeit. Dichtung steht allgemein nicht hoch im Kurs, gerade wenn man ihr den Dunst des Belehrens anzumerken meint. Pleschinski aber hebt diesen Schatz und umgibt ihn mit der Aura der historischen Wahrheit vermittels der Geschehnisse am Ausgang des Zweiten Weltkriegs. Er vermeidet die Einseitigkeit vieler Beschreibungen von heute vom Schicksal der Vertriebenen, stellt diese immer wieder in den Kontext der Verbrechen, denen sich die Deutschen zuvor schuldig gemacht hatten. Dieser Kollaps menschlicher Werte im Kriegsverlauf, der nur mit dem Dreißigjährigen Krieg vergleichbar sein mag, hätte nur durch eine Wunderwaffe verhindert werden können, womit aber nicht die Bombe gemeint sein kann, sondern die Kultur. Jedes europäische Volk verfügte über so etwas und die Besinnung darauf kann ja auch keinem anderen Volk schaden. Die Deutschen, die in ihren deutschesten Zeiten wohl gern auf den Untergang zusteuern, hatten eigentlich eine besonders hochstehende Kultur, die sich heute leider zu verlieren droht. Diese kann zu einem Gutteil aus Sprache bestehen, wenn diese versagt, hat man dann noch die Musik usw.. Man kann die Rolle der Kultur und deren Einwirkung auf Handlungen zwar auch überschätzen („Das Fremde überschätzt man nicht, das Vertraute umso mehr“), aber wie vieles war durch sie eben vorbedacht und ausprobiert. Trotzdem hat es dieses Desaster gegeben und man müsste eigentlich als einzige Konsequenz in Schweigen verfallen, aber Pleschinski schweigt nicht, bringt uns die Facetten von Hauptman nahe und hat auch Eigenes an Dialogen zu bieten, wie sie stimmiger nicht sein könnten.
Diese Gesellschaft, bestehend aus Hauptmann und seiner zweiten Frau, dem Diener, der Zofe, dem Gärtner, dem Masseur, der Krankenschwester, dem Biographen, der Sekretärin, der Köchin und einigen anderen, ist schon die halbe Aufstellung zu einem großen Drama über den Dramatiker selbst, den er aber gar nicht so in den Mittelpunkt rückt, sein Leben ist ja auch am Verlöschen, sondern die jüngere Generation, insbesondere den Masseur Paul Metzkow und die Sekretärin Anni Pollak, die aber manchmal, und das ist vielleicht der einzige kritische Punkt an Pleschinskis Werk, als dem Meister über dargestellt werden als gekonnte Rezipienten und Leuten, die noch eine Zukunft haben. So ist auch der einzige störende Abschnitt des Buches der, wo Metzkow mit einer schönen deutschen Kaffehausbesitzerin ins Bett steigt.
Der Roman beginnt mit der abenteuerlichen Abreise Hauptmanns aus dem zerstörten Dresden, mit knapper Not dem Inferno entkommen, was ihn dann auch im Glauben an die Kultur, auch der westlichen Alliierten lebensgefährlich erschüttert hat. Noch glaubt er, zurückgekehrt in sein Wiesenstein, sagen zu können: „Ich weiß, dass in England und Amerika gute Geister genug vorhanden sind, denen das göttliche Licht der Sixtinischen Madonna nicht fremd war und die vom Erlöschen dieses Sterns allertiefst getroffen weinen.“ Das wurde von den Nazis gestrichen, und auch die Passage: „Von Dresden aus, von seiner köstlich-gleichmäßigen Kunstpflege in Musik und Wort sind herrliche Ströme in die Welt geflossen, auch England und Amerika haben durstig davon getrunken,“ wurde dann in ein „haben sich berauscht“ verbogen. Kein Wort seiner Klage sollte hinzugefügt oder weggelassen werden, aber er war eben nur ein Instrument in einer viel weniger kunstbeflissenen und kosmopolitischen Welt des Nazismus.
Mit Hauptmann gemein habe ich das Misstrauen gegenüber dem Visuellen. Er war kein Filmliebhaber, auch wenn einige seiner Werke verfilmt worden waren, wie Atlantis, indem der Untergang der Titanic vorweggenommen worden war, der Held aber zu den Überlebenden zählt, ein Mikrobiologe, dessen Frau dem Wahnsinn verfallen war und er einer berückenden Tänzerin Mara verfällt, die von Ida Orloff gespielt worden war, die schon sechzehnjährig das Hannele in deren Himmelfahrt gegeben hatte, zu der er selbst auch in Leidenschaft entbrannte. Sie hat sich dann, sechsundfünfzigjährig, so vor dem Einmarsch der Russen in Wien und den Vergewaltigungen gefürchtet, dass sie sich das Leben genommen hat, als diese Soldateska wirklich nahte. Wenn man bedenkt, dass das bei ihr schon ein einigermaßen vorgerücktes Alter war und meine Angebetete, bei der man so etwas keinesfalls als Vorstellung zulassen möchte, erst 53 ist, so kann es einen grausen. Die Gattin Hauptmanns muss seine Affäre mit der Schauspielerin duldend hingenommen haben, vielleicht muss man einem Schriftsteller, der ja von irgendwo seine Eindrücke hernehmen muss, so etwas zugestehn, wie es überhaupt als selbstverständlich galt, dass er seine Umgebung eben zum Zwecke der Bewunderung einspannte und sie dabei wohl auch gut und niveauvoll unterhielt.
Natürlich erfährt man auch Biographisches, dass er als Wirtshauskind aufwuchs, sein Vater bankrottierte, dass er zwei Brüder hatte, Carl und Georg und sich Gerhart zunächst in der Landwirtschaft, dann als Bildhauer versuchte und er eigentlich durch Carl zum Dichten kam. Dass die drei Brüder drei Schwestern reicher Kaufmannsherkunft ehelichten und ihnen erst das ein sorgenfreies, selbstverwirklichtes Leben ermöglichte. Die Jahre in Berlin und Erkner werden erwähnt, dass Gerhart ein Lungenleiden gehabt hat und wie er dann, nachdem er schon drei Söhne sein eigen nannte, Ivo, Eckart und Klaus, für die Geigenvirtuosin Margarete Marschalk entbrannte und er es sich mit der Scheidung nicht leicht machte, sogar die Mitgift zurückzahlte. Wie er als nackter Bogenschütze des Morgens Hugo von Hoffmannsthal in Verlegenheit brachte, der eines Adams noch nicht ansichtig geworden war, oder sich nach durchzechter Nacht in die Ostseefluten stürzte auf seinem Anwesen auf Hiddensee und schließlich auch das Zerrbild, des saufenden, stotternden und Sätze nicht zu Ende bringenden selbstverliebten Pepperkorn in Thomas Manns Zauberberg. Sein Schlafgemach, über dem Bett immer bekritzelt mit nächtlichen Einfällen, alles das nun Museales.
Die Vorgänge im Tal waren so schrecklich, dass es die arglose Natur um Wiesenstein adelte. Und immer wieder dort Gespräche und Lesungen, auch aus den griechischen Dichtungen um das mykenische Artridengeschlcht, zu denen Iphigenie, Agamemnon, Klytaimnestra, Elektra und Orest gehören, und Hauptmann reflektierte die blutende Welt: „Wer mag vom Hades getrennt sich fühlen in der oberen Welt?“ Die Finsternisse, ein Stück von 1938, das von der Begebenheit handelt, dass ein Arier verbotener Weise an der Trauerfeier eines jüdischen Fabrikanten teilnimmt, was auf ein persönliches Erlebnis Hauptmanns zurückgeht und er in seiner Angst vernichtet hatte, tauchte wieder auf, von einem polnischen Kulturverantwortlichen mitgebracht, und trug nun dazu bei, seine Verstrickung nicht allzu tragisch einzuordnen. Ein Besuch Johannes R. Bechers auf Wiesenstein mit verlockenden Angeboten, die der dem Tode nahe Hauptmann aber nicht annehmen kann, kommt erfreulicherweise ganz ohne Hetze aus und ist ein Mosaikstein in der durchaus glaubhaften und profunden Beschreibung der Nachkriegsvorgänge. Zum Höhepunkt des Romans gestaltet sich dann ein Dinner, von dem nicht viel verraten sein soll, nur eben, dass die Dialoge meisterhaft sind und vom schöpferischen Können des Autors zeugen.
Ich möchte dem Ganzen noch eine etwas persönliche Wendung geben. Man kann sich fragen, ob diese Art Hofhaltung eines Laureaten mit dem entsprechenden materiellen Aufwand seine Rechtfertigung hat. Auch ohne die umgebenden Umstände von Hunger, Tod und Vertreibung, wäre eine solche Lebensart zu hinterfragen, denn eigentlich ist ja jede gut ausgeführte Arbeit genauso viel wert, aber indem sich Pleschinski auch allen Satelliten und Angestellten en detail widmet, wird für ihn diese Frage, bei allem Langmut bezüglich des Wohllebens einzelner, eben beantwortet und sein Roman ist ein großer Wurf.
Besonders hat mich die Rolle von Frau Doktor, Margarete Hauptmann beeindruckt, wie sie jeden verbalen Angriff auf ihren Mann oder auch nur atmosphärische Störung im Keim zu ersticken weiß, die wohl anderseits nicht mal in der Lage war, ein Ei zu trennen. Sie hat ja ihren Mann um zehn Jahre überlebt, ging in den Westen und wurde dort noch von der Schwester Maxa betreut, die sich schon beim Hausherrn nützlich gemacht hatte. Mir scheint diese uneigennützige Dienstbarkeit, für die Frauen ja so ein Talent besitzen, heute leider der Vergangenheit anzugehören, weshalb ich mit einer Adaption auf ein Wort Gerhart Hauptmanns schließen möchte:
Wo bist Du, Gesicht, Du mein Frauengebild
Im Dulden die Größe, im Fordern so mild?
Ja, solche Frauen findet man heute nicht mehr und der Ausruf des Dichters, der alles beinhaltet, was ein schöpferischer Mann kann, der in einem Alter ist, wo er schon gefragt wird:
Nein, das ist ja doch zu keck
wie kann er es nur wagen
… mit Liebe mich zu plagen?
Ja wenn er doch ein Ritter wär
fein zierlich, jung an Jahren,
wir lockten ihn mit Weiberlist.
Dann ist es eine völlige Illusion, noch das auszurufen, wozu man trotz allem noch in der Lage ist:
Oh Musen, helft mir schmücken.
Sie ist mein!
C.R. 12.7.2018