Abschied von einer Welt
Der Herbst in seiner Pracht hält, was der Sommer versprochen hat. Auch er verwöhnt uns noch mit Sonne, die jetzt die Farben der Blätter zur Geltung bringen kann. Fast müsste man schon auf das Jahr zurückschauen, aber dafür ist es noch zu früh.
Und doch, es begann mit dem Geburtstag meines Lieblingsenkels und zu diesem Anlass sah ich meine große Tochter Jane wieder und wir spielten gemeinsam ein Puppenspiel, an dessen Titel wir uns beide nicht mehr erinnern konnten, als ich mal diese kleinen Werke Revue passieren lassen wollte.
Zwei Tage später hatte meine Angebetete Geburtstag. Es ist mir auch entfallen, was ich ihr geschenkt habe. Wahrscheinlich weiß sie es auch nicht mehr. Meine eigentlichen Geschenke sind Briefe und Gedichte, und sie sind nicht immer nur mit Liebe getränkt. Ich habe sie auch an prominente Personen geschickt und bis auf eine Ausnahme nie eine Antwort erhalten. Es muss wohl der Eindruck entstehen ich dränge mich auf. Das Kriterium, das Rainer Maria Rilke mal einem jungen Dichter in wundervollen Briefen nahelegte, dass dieser prüfen solle, ob er um sein Leben nicht anders kann als schreiben, erfülle ich nicht. Zwar bezeugen diese Zeilen, dass ich es nicht ganz bleiben lassen kann, aber was wirkliche Werke betrifft schweigt es inzwischen in mir ganz von selbst.
Frauen streben gern die Freundschaft an, die sie ja von Freundinnen her auch gut kennen. Dass es auch noch die Liebe geben soll, erscheint den meisten im Wortsinn nicht mehr verständlich, es wird sogar als lästig empfunden, denn das ist ein dem Tod verwandtes Gefühl, das kaum gelebt werden kann. Meistens ist es nur ein kurzzeitiges Hochgefühl, das die Natur in uns angelegt hat, um die Nachkommenschaft zu sichern. Mit der Zeit muss man sehen, dass es eben nicht anhält und sich durch Nähe verschleißt. Daher erscheint es dem modernen, etwas feigen Menschen als das Beste, wenn man sich gar nicht mehr darauf einlässt, um seine kleine Welt nicht zusammenbrechen zu lassen. Meine Liebe ist nun gar nicht erst ins Leben gekommen und es ist nicht mal das Betreten eines gemeinsamen oder öffentlichen Raumes mehr möglich, kein Blick und kein Wort. Wie wüst liegt da das Herz, man darf eigentlich gar nicht mehr leben, und trotzdem betrifft es einen nur ganz leicht, man ist freundlich, aufmerksam und tut gute Werke, gar nichts von Verbitterung oder verletzter Eitelkeit.
Denn im Grunde kann man seine Liebe nicht verlieren. Wird der andere hässlich und es mehren sich seine Falten, man sieht es nicht. Erzählt er einfältige Dinge und es gibt nichts, was ihn aus der Ruhe bringen kann, man hört es nicht. Ist des anderen Herz aus immerwährendem Eis und kann gar nichts mit einem anfangen, man spürt es nicht.
Meistens sind das alles nur Ungeschicklichkeiten, die den Menschen passieren, die um Offenheit verlegen sind. Sie möchten noch so freimütig alles und allen erzählen, was sie so fertiggebracht haben und noch an zu Bewältigendem vor ihnen steht, gegenüber einem Menschen, dem das Wagnis der Liebe das wichtigste Lebensziel ist, werden sie verstummen, den Sonderling meiden.
Und auch der Einsamkeit singt Rilke in seinen Briefen an den hoffnungsvollen Dichter Franz Xaver Kappus ein Hohelied, wobei man sich um die Sozialität einer solchen Lebenshaltung Sorgen machen kann. Bei der Frage, wer für diese Einsamkeit verantwortlich ist, der andere, die Welt oder er selbst, kann man schnell mit der Antwort bei der Hand sein: Natürlich er selbst. Er wird auch dieses Verdikt tragen, in seiner Einsamkeit, bis die Zeiten ihn erlösen.
Zum Glück ist die Erscheinung der Sonderlinge marginal, sonst würde sich bald kein Rad mehr drehen, und die Dinge müssen ja ihren Lauf nehmen. Allerdings steigen deren Möglichkeiten, weil die materiellen gestiegen sind und keiner mehr hungern muss, der ein Formular auszufüllen versteht.
Und schließlich ist selbst der gut funktionierende Mensch in gewisser Beziehung auch ein kleiner Sonderling, für dessen kleine Macken sich zu interessieren lohnt, denn jeder Mensch ist ein Universum.
Christian Rempel in Zeuthen, den 13.10.2018
Herbsttag
Komm, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Noch sind nicht Schatten auf die Sonnenuhren,
doch auf die Fluren lass die Winde los.
Befiehl den Früchten, voll und reif zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
zur Vollendung dränge sie und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer einsam ist, wird lange einsam bleiben,
wird wachen, brüten, lange Briefe schreiben,
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, während Blätter treiben.
nach Rainer Maria Rilke