Die goldene Brücke
Man erwartet von einem Gedichtladen Erfolgsgeschichten. Die Leute stehen Schlange und ständig klingelt das Telefon. Man möchte das vielleicht lesen, aber der Auftraggeber möchte man nicht unbedingt sein, denn das kostet ja was. Und schließlich kann das doch jeder – das bisschen Dichten..
Gerade war ein Gedicht für eine Goldene Hochzeit gratis entstanden. Das war eine Familie mit vielen Kindern und lustigen Anekdoten, die nur noch in Reimform gebracht werden mussten. Was nicht bekannt war, dachte man sich aus und traf den Nagel auf Anhieb auf den Kopf.
Gleich darauf kam ein Mann in den Laden, der schon während unseres Urlaubs versucht hatte, Kontakt aufzunehmen. Es ging wieder um eine goldene Hochzeit, doch der Nachwuchs war spärlicher und hatte offenbar viel weniger erlebt. Es zeigten sich Lücken über Lücken.
Dann folgte noch ein Gespräch und noch eins, jedes Mal blieb etwas offen, aber er wollte es entweder durch seine achtjährige Tochter vortragen oder mit ihr zusammen. Was lag da näher als einen Dialog zwischen Tochter und Vater zu schreiben. Das ereignisarme Leben der Jubilare wurde unversehens durch ihre Wohnorte angereichert, denn bei dem einen hatte Otto Lilienthal Flugversuche gemacht und der andere hatte in den Napoleonischen Kriegen eine Rolle gespielt. Beide Orte hier ganz nahe bei Berolina.
Das Bild einer naiven Tochter, die den allwissenden Vater befragt, kam gar nicht erst auf, sondern diese kleine Person wusste selbst einiges und sprach in richtigen Alexandrinern, was eine ziemlich lange Versform ist und gar nicht zu kindlich, während der Vater in Knittelversen sprach.
Allein, als das fertige Werk vorgetragen war, erschien es dem Auftraggeber zu historisch belastet, es war eben das, was man ein feierliches Moment nennen würde. Er nahm es mit, dann etwas Funkstille. Wir boten an, es mit der Tochter eigens zu üben, denn das schien schon erforderlich, aber eine familiäre Macht, die nie den Weg in den Gedichtladen fand, wollte es nicht.
Schließlich kam er mit der Adaption, die selbst verfertigt war und die war leichter, weniger kunstbeladen und weniger gefeilt. Wo des Dichters Sinn einige Klippen umschifft hatte, standen wohl auch einige härtere Worte für unsere früheren gesellschaftlichen Verhältnisse.
Dennoch händigte er mir 20 € aus für meine Bemühungen und fand das angemessen. Auf dem Markt hätte das Gedicht leicht die zehnfache Summe erzielt, aber der Kunde-König hatte entschieden. Dennoch eine goldene Brücke, über die der Dichter ging. Das Original verblieb seltsamerweise beim Auftraggeber und wird vielleicht eines Tages in einem Familienalmanach aufgefunden. Dann wird man sehen, welches wohl dem Anlass geeigneter erschienen wäre.
Hier ein Auszug:
Tochter:
Doch Wietstock, dieses kleine Dorf, das werden sie vergessen haben,
der Hof, die Ernte und viel Arbeit, es liegt so still am Nuthegraben.
Vater:
Vor langer Zeit hat`s angefangen,
als Napoleon die Welt berannte.
Sie wollten nach Berlin gelangen,
und man schon dieses Wietstock kannte.
Die haben sich im Dorf verschanzt
und wie Du Dir da denken kannst
standen damals Preußen Wache,
war ziemlich haarig diese Sache.
Urteilen Sie selbst, soll der Dichter eine solche Passage dem Vergessen anheim fallen lassen, nur weil sie nicht privat genug ist?
Im Waltersdorfe 29.8.2011