Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Fast im Urlaub

Der sechzigste Geburtstag meines zweitältesten Bruders war der Anlass, mal eine größere Reise zu unternehmen (600 km bis in den Odenwald). Noch bevor wir unser Quartier bezogen, schauten wir dort erst mal vorbei und hatten natürlich Gedichtliches im Gepäck. Es handelte sich um einen Vortrag, der auf die Tatsache Bezug nahm, dass dieses Jubiläum in einem Primzahljahr begangen wird und mein Bruder auch in einem solchen Jahr geboren ist. Von dem ganzen Rempelclan trifft es nur auf vier Personen zu, in einem Primzahljahr geboren zu sein, die mit einer Häufigkeit von ca. 11% auftreten. Außerdem waren wir natürlich ein Gedicht schuldig.
An diesem Abend wurde gegrillt und geschwatzt und irgendwann mussten wir dann auch in unser Quartier, das in Vielbrunn, direkt am Limes lag und uns mit einer wunderhübschen Einrichtung nebst umfangreicher Literatur über den Odenwald und geistliche Dinge empfing. Da hatten wir nun zwar die Uraufführung von einer Adaption auf Bolle verpasst, aber kamen rechtzeitig ins Bett.
Am nächsten Tag nahmen wir die dortigen Wälder in Augenschein, während das Programm eigentlich einen Kletterwald geplant hatte, den wir aber ausließen. Nachmittags ging es dann zum Feiern nach Michelstadt, das sich gerade in seliger Weinbrunnenfeststimmung befand, so dass kaum ein Durchkommen war. Der Jubilar hatte eine Stadtführung organisiert, deren Höhepunkt im Ziehen der Ratsglocke im Ratssaal des 1484 erbauten Rathauses bestand.
Dann ging es ans Essen und in den unvermeidlichen Pausen gab ich meinen Primzahlenvortrag zum Besten, der das Prädikat „gut erklärt“ erhielt. Die zweite Einlage kam von Andrea. Dabei ging es um die verschiedenen Arten Papier, die uns so im Leben begleiten. Dann entwickelte sich das Gespräch in Richtung Aktienkurse und den Wert solcher Spekulationen. Es wundert nicht, dass man dies bald leid wurde, weil dort jeder eine andere Wahrheit zu bieten hat. Das Gedicht, was ich noch in petto hatte, war ja ein bisschen skandalös – eben kein solches Lob- und Preisgedicht, wie man es gern hört, was sich aber einfach nicht ergeben hatte. Es war für meine Frau geschrieben und von ihr verworfen worden, aber plötzlich ertönte der Ruf nach einem Gedicht.
Vorher war schon diskutiert worden, dass derartige Beiträge von mir sogar gefürchtet sind. So hatte sich mein ältester Bruder schon allerlei Sorgen gemacht, als er voriges Jahr sechzig wurde. Ich habe es noch einer kleinen Zensur unterworfen und las dann die gekürzte Fassung vor. Es war nicht gerade ein Erfolg zu nennen, denn am Schluss entstand ein Moment, wo sich irgendeiner aus der Runde entschließen musste, der erste zu sein, der doch Beifall spendet. Dann machte das Original noch einmal die Runde, um die verworfenen Stellen auch noch mal nachzulesen. Mein Vater erläuterte seinen Schwippschwägern, dass Christian einen Gedichtladen innehätte. Das war Erklärung, nicht unbedingt Stolz. Fast jeder las die Originalfassung und gab sie kommentarlos weiter.
So ein Gedicht macht einsam. So ein Gedicht macht stumm.
Aber es hieße ein Gedicht zu sehr zu würdigen, wenn man etwa böse darüber wäre, also bewahrte man Contenance, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Als wir uns dann alle noch einmal wie Bolle „amüsierten“, war das Ganze dann ausgestanden. Der nächste Jubilar bin ja ich, und da werde ich schon etwas zu hören bekommen.
9.10.2011