Das Geheimnis der Eiche
Ein Kinderstück
1. Eiche (einige Kinder)
2. Eule-Tahu
3. Eichhörnchen-Cosima
4. Kerze-Minia
5. Zwerg-Zwiebelkricks
6. Drache- Kalifur
7. Erzählerin
Erzählerin: Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, oder vielleicht ist es noch länger her, da hatte die Welt noch etwas Wunderbares. In jedem kleinen We- sen, in jedem Tier und jeder Pflanze lag etwas Zauberhaftes. Sie alle konnten spre- chen, wie wir es doch nur bei Menschen für möglich halten. Märchenhaftes war über- all, es wuchs sogar auf den Bäumen. Das war eine solche Magie, dass heute keiner mehr daran glauben will, dass es das überhaupt einmal gegeben hat. Ich will euch erzählen, was ich in dieser fernen Zeit erlebte: An einem dunstigen Morgen segelte ich auf meinem Drachen Kalifur über eine weite Landschaft mit einem hohen Himmel. Da sehe ich unten auf einer großen Lichtung eine stattliche Eiche. Komm Kalifur, lass uns landen.
Kalifur: Seltsam – die Äste der Eiche sind silbern, wie meine Flügel. Die Blätter rau- schen, als lausche man in eine Muschel. Das hört sich ein bisschen wie der Wind an, aber auch ein bisschen wie Worte. Horch nur, was sie säuselt:
Eiche: Wind komm herbei
lass es wehen und wettern
Mein Geheimnis es sei
bei den ewigen Göttern
Zwerg: Hat sich wohl wieder mal einer gefunden, der sich diesen Quatsch anhört. Das geht den ganzen Tag so, dass man kaum schlafen kann. Dabei habe ich eine schwere Arbeit in den Müggelbergen und will zu Hause dann wenigstens meine Ruhe haben. Wer bist denn Du?
Kalifur: Ich bin Kalifur, der Drache. Wir flogen über die Weite und sahen diese wun- derschöne Eiche. Da wollten wir sie uns mal näher ansehen.
Zwerg: Mich nennen alle Zwiebelkricks, meine Kollegen im Bergwerk sagen aber ein- fach Knolle zu mir. Früher hätte ich mir das nicht bieten lassen, da waren sie nicht größer als ich, aber sie wachsen und wachsen und wollen auch nicht mehr Zwerge heißen. Sie sind jetzt was Besseres.
Kalifur: Ich weiß. Sie bilden sich etwas ein auf Heldentaten. Am besten, wenn man einen Drachen getötet hat. Wohnst Du hier schon lange in der Eiche?
Zwerg: Wohl an die hundert Jahre, so lange, wie die Eiche schon steht.
Kalifur: Und ganz allein?
Zwerg: Nein, ich habe eine Kerze. Mit der rede ich immer am Abend. Sie heißt Minia. Wenn ihr noch eine Weile da seid, kann ich sie euch zeigen, aber jetzt muss ich mich erst mal ausruhen, ich komme ja von der Nachtschicht.
Erzählerin: Der Zwerg Zwiebelkricks verschwand durch ein winziges Türchen in der wundersamen Eiche und diese flüsterte wieder ihren Spruch vom Wind und dem Geheimnis. Wir sahen sie uns näher an und bemerkten eine weiße Eule, die die Augen geschlossen hatte und der der Wind immer mal eine Feder abspreizte, was sie aber nicht zu stören schien. Kalifur wollte sie ansprechen, aber die Eule kam ihm zuvor:
Eule: Weit fliegen die Gedanken. Noch weiter als ihr geflogen seid. Seid willkommen im Reich der Cosima. An Wundern wird es euch hier nicht fehlen und ein großes Ge- heimnis gibt es auch. Kann ich euch irgendwie nützlich sein?
Kalifur: Wie könntest Du denn jemandem nützlich sein, wenn Du immer nur mit geschlossenen Augen dasitzt.
Eule: Ich sitze nicht immer mit geschlossenen Augen da. Nur dann, wenn alle den- ken, es gäbe etwas zu sehen, habe ich sie geschlossen. Nachts sehe ich mir dann alles an und manchmal fliege ich sogar umher. Ein bisschen Bewegung muss man ja auch haben.
Kalifur: Und Du meinst, ich sehe genauso aus, wie Du Dich mir vorgestellt hast. Wie heißt Du eigentlich?
Eule: Man nennt mich Tahu. Ich weiß, Du hast silberne Flügel und ansonsten bist Du eben grün wie alle Drachen.
Kalifur: Und meine Augen?
Eule: Die sind gelb, wie bei allen Drachen. Kalifur: Und meine Klauen, wie sind die Tahu?
Eule: Rot, wie bei allen Drachen.
Kalifur: Und mein Feueratem Tahu?
Eule: Das weiß ich nicht, das ist bei allen Drachen verschieden. Dann lass doch mal sehen.
Erzählerin: Und die Eule Tahu tat zum ersten Mal an diesem Morgen ihre Augen auf. Erst das eine und dann das andere und es waren sehr weise Augen, kann ich euch sagen. Kalifur stieß einen Schwall leuchtend blauen Gases aus. Dann fragte er, was denn das zu bedeuten hat, das Reich der Cosima, aber da hatte Tahu die Augen schon wieder geschlossen und gab keine Antwort. Sie war sogar ein bisschen un- ruhig und bald merkten wir warum, denn irgendwo aus den Ästen war ein niedliches Eichhörnchen herabgeflitzt und ohne uns anzusehen klopfte es an die Tür des Zwer- ges.
Eichhörnchen: Zwiebelkricks mach schnell, ich habe wieder eine.
Zwerg: Ich schlafe, ich bin gerade von der Nachtschicht gekommen.
Eichhörnchen: Untersteh Dich. Du weißt, dass ich Deine Herrin bin. Schlafen kannst Du noch später genug. Und bring den Plan mit.
Zwerg: Einen Moment.
Erzählerin: Das Eichhörnchen verbarg etwas neben der Tür unter einem Borken- stück. Dann wandte es sich uns zu.
Eichhörnchen: Ein Mädchen und ein Drachen, das ist ja eine nette Kombination. Wie kommt ihr denn dazu, in meinem Reich zu landen?
Kalifur: Mit Verlaub, dann müssen Sie wohl die Herrscherin dieses Reiches sein. Wahrscheinlich ist Ihr Name dann Cosima. Wir sahen aus der Luft diese wunder- schöne Eiche und wollten sie uns näher ansehen. Da haben wir den Zwerg Zwie- belkricks kennengelernt und die Eule Tahu.
Eichhörnchen: Das sind alle meine Untergebenen. Ich bin wirklich die Prinzessin Co- sima, eine Königin oder gar einen König gibt es nicht, denn mein Reich ist ziemlich winzig und ich habe nur drei Untertanen, die mir zu Diensten sind.
Kalifur: Die Eule, der Zwiebelkricks, das sind doch erst zwei.
Eichhörnchen: Seid nicht so neugierig, ich mag so etwas weder an meinen Untertanen noch an Gästen.
Eiche: Wind komm herbei
Lass es wehen und wettern
Mein Geheimnis es sei
Bei den ewigen Göttern
Kalifur: Wovon spricht diese Eiche, liebe Prinzessin Cosima?
Eichhörnchen: Seid nicht so neugierig, ich befehle es euch.
Kalifur: Was habt ihr dort an der Tür verborgen vorhin?
Eichhörnchen: Ihr sollt nicht so neugierig sein. Dies ist mein Reich und euch geht das gar nichts an. Glaub nicht, weil Du ein Drachen bist, hätte ich Angst vor Dir. Am besten ihr macht euch wieder auf den Weg und sucht euch andere Sehenswürdigkeiten.
Eule: Prinzessin, Prinzessin, ich sehe etwas. Einen Wald, einen großen Wald, er besteht aus lauter Bäumen, wie diesem hier, aber er hat keine …
Eichhörnchen: Schweig Tahu. Sag mir später, was Du siehst, wenn diese Fremdlinge weg sind. Sie sind mir allzu neugierig. Fast wie diese Städter.
Erzählerin: Die Eule hatte das mit geschlossenen Augen gesagt, sie konnte offenbar hellsehen. Als wir uns aber verabschiedeten, tat sie trotzdem noch einmal ein Auge kurz auf, wohl um sich zu überzeugen, dass sie jetzt wieder in dem Prinzessinnen- reich unter sich sind. Wir waren natürlich noch neugieriger geworden, als vor unserer Ankunft und wollten uns die Stelle, wo die Eiche stand, gut einprägen, dass wir wie- der einmal vorbeischauen können. Vielleicht war ja Cosima auch mal besserer Lau- ne, wozu man vielleicht ein paar Jahre warten musste, vielleicht war es auch siche- rer, hundert Jahre abzuwarten.
‚Zwiebelkricks, mach auf, ich habe wieder eine‘, hatte die Prinzessin gesagt. Was hatte sie nur damit gemeint? Die Neugier plagte uns ein Jahr, zwei Jahre, was sage ich, hundert Jahre. Dann flogen wir wieder hin und sahen, dass die Stadt Berolina schon ganz schön gewachsen war. Da waren sie wieder, die Müggelberge, in denen Zwiebelkricks seine Arbeit hatte und dann musste sie kommen, die wunderbare Ei- che, aber wo war sie? Kalifur, reiß Deine gelben Augen auf, irgendwo muss die Eiche doch sein.
Kalifur. Ich sehe überall Eichen. Ein richtiger Gürtel ist das um die Stadt, aber hier, dass sieht aus, wie eine Arabeske. Ein wundersames Muster von lauter Eichen und mitten drin, sieh da, ich erkenne sie wieder, die alte Eiche. Sie hat sich kaum verändert. Lass uns landen.
Zwerg: Guten Tag. Ich weiß nicht, was die Prinzessin sagen wird, wenn sie euch hier wieder sieht.
Kalifur: Zwiebelkricks, wie geht es Dir? Die Gegend hat sich ganz schön verändert. Es sieht aus, als hätte sich die Eiche vervielfacht.
Zwerg: Pst, das darf keiner wissen. Das ist doch unser Geheimnis. Aber verändert hat sich wirklich einiges. Die Städter sagen jetzt nicht mehr Knolle zu mir, sondern Bolle.
Kalifur: Gehst Du immer noch ins Bergwerk in den Müggelbergen?
Zwerg: Ja, aber die Ausbeute wird immer geringer. Sie sagen, das liegt daran, dass die Zwerge nicht mehr so viel schaffen und wollen jetzt Maschinen erfinden, die un- sere Arbeit übernehmen. Die Stadt wächst und sie bauen immer mehr Häuser. Kalifur: Du wolltest uns doch mal Deine Minia zeigen, Deine Kerze. Jetzt ist es Abend und sie könnte uns doch ein bisschen leuchten.
Zwerg: Ich habe sie immer bei mir, denn ich brauche sie ja auch im Bergwerk. Hier ist sie. Sag guten Tag Minia.
Minia: Guten Tag ihr beiden. Soll ich euch etwas Licht spenden?
Kalifur: Wenn es dunkel wird, kann ich auch ein bisschen Feueratem hauchen, das ist auch ganz schön hell.
Minia: Bitte nicht, ich habe Angst vor Feuer. Es könnte auch unsere Wohnung entzünden.
Kalifur: Eine Kerze, die Angst hat vor Feuer. Wo gibt es denn so was?
Minia: Ich habe ein besonderes Licht. Es leuchtet, ohne zu blenden. Es wärmt, ohne zu verbrennen.
Zwerg: Aber Du machst es Dir nicht einfach, denn verbrennen ist leicht und blenden noch viel leichter.
Minia: Achtung, die Prinzessin kommt.
Erzählerin: Cosima war ganz schnell den Baumstamm heruntergekommen und wieder kümmerte sie sich erst gar nicht um uns, sondern sagte zu Zwiebelkricks: ‚Hier ist wieder eine‘, und hielt etwas vor uns versteckt. Und dann: ‚Wo ist der Plan?‘ Zwiebelkricks faltete einen großen Bogen auseinander, und obwohl wir ihn nicht genau sehen sollten, konnten wir doch eine Form erkennen. Das war die Arabeske mit lauter kleinen Kreuzen, nach denen die vielen Eichen hier angeordnet waren. ‚Vergrab es dort‘, herrschte die Prinzessin Zwiebelkricks leise an und zeigte auf eine Stelle. Irgendwie musste ‚Hier ist wieder eine‘ damit zu tun haben. Mehr konnten wir
nicht erkennen. Aber dieses kleine Ding, was sie verbergen wollten… Minia hatte zu leuchten begonnen und einer ihrer Strahlen fiel auf dieses Etwas und es leuchtete, wie nur edles Metall leuchten kann. War das etwa Gold?
Eiche: Wind komm herbei
Lass es wehen und wettern
Mein Geheimnis es sei
Bei den ewigen Göttern
Eichhörnchen: Na da seid ihr ja schon wieder. Habe ich euch nicht schon vor hundert Jahren gesagt, dass wir neugierige Gäste nicht so gern haben?
Kalifur: Neugierig sind wir schon. War das nicht eben Gold, was ihr Zwiebelkricks gegeben habt?
Eichhörnchen: Ja, Du Naseweis, es war Gold, aber ein besonderes, es war eine goldene Eichel. Jedes Mal wenn eine solche sich an unserer Eiche zeigt, dann pflücke ich sie und befehle Zwiebelkricks, sie sofort zu vergraben. Daraus sind all diese Eichen hier geworden, nach unserem Plan. Einen richtigen Wald haben wir schon.
Kailfur: Wenn das die Städter wüssten mit dem Gold, dann könnten sie damit etwas Besseres anfangen, als eine Arabeske anzupflanzen. Dann würden sie nicht mehr in den Bergen suchen, sondern hier einfach immer mal ernten kommen. Eichhörnchen: Sie werden es aber nicht erfahren, wenn ihr dichthaltet, was ich euch hiermit befehle.
Kalifur: Wenn Sie Bitte sagen würden, dann wäre das eine Selbstverständlichkeit, aber das kann eine Prinzessin wohl nicht.
Eichhörnchen: Ehre, wem Ehre gebührt.
Erzähler: Die weiße Eule Tahu hatte wieder mit geschlossenen Augen auf ihrem Zweig gesessen, aber scheinbar hatte sie gerade wieder in die Zukunft gesehen und sagte wie im Schlaf.
Eule: Stümpfe, ich sehe Stümpfe, alles zersägt, zu Haufen gelegt. Straßen, ich sehe Straßen, die zwischen Häusern hinführen, alles zerschnitten, alles zersägt … Prinzessin: Tahu, wovon träumst denn Du schon wieder? Eichen halten viele Jahr- hunderte, keiner wird sie absägen. Sieh hier unsere Eiche, auf der Du sitzt, ist schon zweihundert Jahre alt und sieht mächtig aus. Keiner kann ihr etwas anhaben. Und Du Drachen und Du Mädchen, ihr müsst uns nun allein lassen. Wir haben zu arbei- ten. Und denkt dran, dass ihr unser Geheimnis bewahrt.
Kalifur: Ja Prinzessin, das werden wir tun. Erzählerin: Die Eiche flüsterte wieder
‚Wind komm herbei lass es wehen und wettern Mein Geheimnis es sei bei den ewigen Göttern‘und wir erhoben uns hoch in die Lüfte. Wir haben keiner Menschenseele verraten, was es mit den goldenen Eicheln auf sich hat. Wenn wir heute dort langfliegen, müs- sen wir uns in acht nehmen vor den vielen Flugzeugen. Als wieder hundert Jahre um waren, die Eiche also dreihundert Jahre alt war, konnten wir sie wieder nicht finden. Die Arabeske aus Eichen war verschwunden und überall waren Häuser und Straßen, ganz viele Straßen. Als wir die alte Eiche endlich fanden, war selbst sie von einer Straße umflossen und hieß nun Friedenseiche. Wir fanden weder die Prinzessin, noch den Zwerg, noch die wundersame Kerze Minia. Nur die Eule war jetzt als Schild an den Stamm genagelt und sah ganz gelb aus. Gern hätten wir erfahren, wie es kam, dass nur die alte Eiche übriggeblieben ist und das Reich der Prinzessin Cosima auf ein Nichts zusammengeschrumpft war. Da sprach die Eiche:
Eiche: Kinder herbei
lasst es wehen und wettern.
Mein Geheimnis es sei
in meinen grünenden Blättern
Erzählerin: Aus einigen Häusern kamen die Kinder und sammelten sich auf der klei- nen Grünfläche, die um die Eiche geblieben war. Die Eiche hatten sie schon oft ge- sehen, einen Drachen dagegen nur im Fernsehen oder Kino. Jetzt war es für mich an der Zeit, ihnen von dem Geheimnis zu erzählen und als sie alles verstanden hatten, lugten alle nach oben, ob sie nach so langen Jahren nicht doch wieder einmal eine goldene Eichel in den vielen grünen Blättern erspähen konnten, aber sie sahen nur oben ein scheues Eichhörnchen entlanghuschen, war das vielleicht Cosima?
Kalifur: Denkt nicht, dass es die Wunderwelt nie mehr geben könnte. Ihr seht, ich bin aus Fleisch und Blut, ein richtiger Drache. Eines Tages werdet ihr sicher wieder gol- dene Eicheln an der wundersamen Friedenseiche entdecken. Macht euch einen Plan und erschafft euch eure eigene Zauberwelt. Dann werdet ihr auch Zwiebelkricks, Cosima, Tahu und Minia wiedertreffen und auch wir werden uns bestimmt oft sehen. Alle: Macht ihr mit?
Schluss