Die Seele brennt – mein Rathenow
Nach 15 Jahren wieder mal ein Wiedersehen mit der Geburtsstadt der deutschen optischen Industrie – diesmal mit der Bahn und meinem Michél, der ja noch gar nicht geboren war, als ich das letzte Mal dort weilte. Alles noch sehr sauber und in Goldschnitt. Gleich am Bahnhof das Denkmal für Johann Heinrich August Duncker, der noch im achtzehnten Jahrhundert in Halle, wo die Realien damals schon eine Rolle gespielt hatten, Theologie und die Kunst des Glasschleifens studiert hatte – man bedenke, welche Kombination. Er erfand dann, zurückgekehrt nach Rathenow, die Vielschleifmaschine, wo gleich mehrere Kalotten mit jeweils fünf Glasrohlingen geschliffen werden konnten, die man im optischen Museum, wo wir die einzigen Gäste waren, bewundern kann.
Dieses Museum der optischen Industrie befindet sich im Dachgeschoss des Kulturhauses „J. R. Becher“, das das Motto trägt (ebenfalls in goldenen Lettern) „Wir erhoben uns – Gestalt zu sein“. Dieser wohl unkonventionellste der DDR Minister hatte nur einen Makel, er war Junkie. Sein Erbe nun scheint stärker zu sein als das Dunckers, denn wie uns Jugendliche offenbarten, ist Rathenow nun eine Stadt der Drogen, jedenfalls was die jungen Leute betrifft.
Wenn ich bedenke, dass ich vor zwanzig Jahren von dieser Stadt so fasziniert war, dass ich am liebsten dort hingezogen wäre, macht es einen das Herz bluten, wenn ich daran denke, vor welcher unlösbaren Aufgabe man da gestanden hätte, denn so ein Problem lösen Polizei und Streetworker nicht mehr. Da müsste man schon beim Großen Kurfürsten anfangen, dessen Denkmal auch noch gut in Schuss ist. Aber keiner weiß mehr, wo man ihn hinstecken soll, genauso wenig wie die Jugendlichen wüssten, was es mit dem Schwedendamm wohl auf sich hat. Die Schweden wären im Zweiten Weltkrieg, der irgendwann um 1942 festgemacht wurde, an der Havel gestanden. Ach so, sagten sie auf meinen Hinweis, dass es wohl eher um den 30jährigen Krieg gegangen sei, der war doch auch in der Drehe.
Man hat dort die Geschichte verlorengegeben und verlor die Jugend, auch wenn alles noch so aus dem Ei gepellt ist. Man mag gar nicht fragen, wie es da wohl um die Lehrerschaft stehen mag. Sicher ist dort der Lehrer auch schon der Depp, auf den keiner mehr hört, wie es uns aus dem Westen überkommen ist. Hätte man je einen so großen Sinn stiften können, dass es die Jugend von den Drogen zurückgehalten hätte?
Die Parteivorderen hatten damals über die Eigenart Johannes R. Bechers hinweggesehen, nicht von den Drogen wegzukommen, und man kann sich vorstellen, dass es auch in der jungen DDR bei aller Aufbruchsstimmung für einen Schöngeist und Unkonventionellen schon Anlass gab, seinen Weltschmerz zu betäuben. Jetzt folgt ihm eine ganze Generation nach.
C.R. 28.5.2021