Lieber Eberhard Aurich,
auf fast konspirative Weise erreichte mich Ihr Buch, „Zusammenbruch“, zu dem sich Hans-Dieter Schütt nicht in der Lage sah, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Man fragt sich, warum 30 Jahre nach den Geschehnissen vergehen mussten, bevor sie nun in den kleinen Chor der sich Erinnernden einstimmen und so etwas wie eine Lebensbilanz ziehen, die sich in drei Monaten zusammenballten wie Kumuluswolken vor einem Gewitter. Der Regen, in dem wir dann standen, und uns die Ereignisse überholten, führt aus der Perspektive der Verantwortlichen in die Ratlosigkeit, die sich offenbar selbst fremdgeblieben waren, man konnte da nicht von einer Aristokratie sprechen, wo sich doch deren Vertreter wenigsten privat ganz wohlgefühlt hätten, sich in Bällen ergangen, auf denen man sich im small talk hätte austauschen können. Das waren keine Herrscher nach aristokratischem Zuschnitt, sondern jeder hatte wohl auch immer eine gewisse Angst, den Anforderungen, die ja immens waren, nicht genügen zu können und keiner konnte dem anderen so recht trauen. Das zu erfahren, war mir wirklich neu. Es gab wohl keinen rechten Filz. Damit hatte es sicher nicht mal in der Waldsiedlung geklappt, mit den ach so dürftigen wie lächerlichen „Privilegien“, die es dort gegeben hatte.
Sie wohnten (oder wohnen – ich auch) in der Platte, joggten regelmäßig und fuhren dann nur ungern Citroen, und haben diese dann sogar abgestoßen. Sie setzten in dieser heißen Zeit sehr auf Gesprächskultur, ein weiteres Plus. Man kann es nicht anders einschätzen, als dass die Mitglieder, sei es der Partei oder der FDJ, in gewisser Weise zu den Funktionären aufschauten, was diesen doch naturgemäß auch ein gewisses Wohlbefinden verschafft, solange dieses Aufschauen währt. Das alles ist gar nichts schlechtes. Gejagt von Parteidirektiven und Vorfällen in den eigenen Reihen, Höhepunkten und internationalen Verpflichtungen, kann ich mir vorstellen, dass das innerliche Gleichgewicht und eine ganz individuelle Bildung auf der Strecke bleiben mussten, wobei ich gerne Bildung nicht verwechseln möchte mit Vielwisserei, wie sie die Intellektuellen pflegen. Das wurde mehr an die Spezialisten delegiert und mir fiel auf, dass Sie sehr viel von dem Soziologen Friedrich in Leipzig hielten. Jeder weiß, dass soziologische Erhebungen und Schlussfolgerungen zu Verschlusssachen gehörten. Mit der Kultur verfuhr man ebenso ehrfürchtig, dabei hatten Sie mit Poetenseminaren und Rockbands zu tun. Ganz unten waren Sie wohl nie angekommen, was ich Ihnen auch nicht wünschen mag.
Geheimdienstliche Aspekte streifen sie nur sehr am Rande, dabei gehörte das selbst zu meinem Leben als kleines Licht und spielte eben in der DDR, wo man nicht auf die Idee gekommen war, einfach einen Teppich von Meinungen zuzulassen, der jede neue Idee zum Untergang verurteilt hätte, wie es heute ist. Dieser Teppich ist allerdings nicht das Allheilmittel und falls Sie sich fragen sollten, welche Aufgaben vor der heutigen Jugend stehen, so wäre das ohne noch größere Hohlheiten nicht zu beantworten. Ihnen wird nicht entgangen sein, dass nach Nachhaltigkeit und Digitalisierung, nun die Dummheit die Vernetzung als neuestes Unwort erfand, was dem einzelnen etwa so viel sagt wie „Vorwärts zum Xten Parteitag“. Um gesellschaftliche Ziele ist man heute verlegen und selbst die Schamaninnen raten einem, nachdem sie einige Jahre davon sprachen, dass man seine Mitte finden und nicht verlassen sollte, in einem Wir zu denken. Wenn nur dieses Wir wiederkehrte, wäre doch schon viel gewonnen, man muss da nicht gleich an ein System denken.
So meine Gedanken bis Seite 144. Ich bin nicht ganz sicher, ob es darüber hinaus noch etwas bringt. Schön, dass wir diese Zeit erleben durften, die uns nun die restlichen Tage noch zu denken gibt.
Fürs erste, das.
Mit Frühlingsgruß nun erst mal Schluss
Ihr Christian Rempel
Gern zur Veröffentlichung auch auf Ihrer Seite.
Zeuthen, den 26.3.2023