Johann Friedrich Herbart
Es ist mir fast unerklärlich, wie ich mich in einen der Altvorderen verlieben konnte, von dem ich erfahren musste, dass Platon die Dichter aus der Akademie verjagte, wo ich mich doch fast eingeschlossen fühlen muss. Ein Mensch auch, der jeglichem Scherz, jedem Spiel als Verwässerung des Ernstes der Tage abhold war, die zu seinen Zeiten wohl die des Vormärz waren, er aber nun auch gar kein politischer Mensch gewesen zu sein scheint, weil diese Tagesfragen wiederum der reinen Wissenschaft, wie man sie an zweien ihrer Horte, an denen er sich aufhielt, in Göttingen und Königsberg, zu pflegen hatte, abträglich waren. Selbst kinderlos hatte er sich der Psychologie und Pädagogik verschrieben, auf die sich heute noch sein Ruhm gründet, und die mir aber völlig undurchdringlich erscheinen, wo man eigentlich nur das Handtuch werfen kann unter heutigen Bedingungen, unter denen man allgemein und systemisch gemütskrank ist und die Schüler der Spielsucht hoffnungslos verfallen scheinen. Dem kann man nicht mehr mit Konzepten begegnen, da kann man nur noch seinen persönlichen Reim drauf zurechtmachen und versuchen etwas zu tun.
Und dann eben noch die Metaphysik, die sich hineinsteigert in logische Konstruktionen über Materie und Bewusstsein, die wortreich sind und in den physikalischen Vorstellungen der Zeit gemäß geradezu infantil vorgetragen werden und auf der die ganze Bürde der Scholastik noch lastet. Das alles war noch so an den Mann zu bringen, dass man genügend Hörer hatte, für einträgliche Kolleggelder, und zudem kann man heute zweifeln, ob Universitäten, die auf Glanz nach außen eingestellt sind und jedes dort tätige Ich sich selbst so gut wie möglich zu verkaufen sucht, noch wirklich als die Horte origineller Ideen gelten können. Heute hat jeder, wenn er die gewonnene Freizeit nur darauf verwenden möchte, die Möglichkeit zu schreiben und das Problem besteht eben eher darin, dass es inzwischen mehr Schreiber als Leser gibt.
Herbart führt in seiner Metaphysik ein Modell aus, das meinen Vorstellungen sehr nahe kommt. Nicht nur, dass er dem Idealismus eine Absage erteilt und meint diesen widerlegt zu haben. Er sieht zwar vollkommen die Bedingtheit der Wahrnehmungen, aber vermutet hinter dem Schein, mit dem wir es immer zu tun haben und zu dem er auch Raum und Zeit zählt, dennoch reale Dinge, nämlich einfache Wesen, die einzig real sein sollten.
Diese einfachen Wesen könnten die Elementarteilchen sein, wenn man die moderne Physik nimmt, die vermutet, dass selbst das Vakuum ausgefüllt ist mit Teilchen, die sich gegenseitig kompensieren und bei Energiezufuhr aus diesem auftauchen können, also unseren Sinnen und Instrumenten zugänglich werden.
Das kann er nicht richtig deutlich machen, was er mit den einfachen Wesen meint, aber ein Rezensent hat es herausgelesen:
Wie wenig wir darum auch geneigt sind die Ableitung der äußeren Verhältnisse aus den inneren Zuständen einfacher Wesen zu verwerfen und damit einen viel verheißenden Erklärungsgrund von vornherein aufzugeben: überzeugen können wir uns nicht, dass er für sich genommen zur Ableitung der Räumlichkeit und ihrer Erscheinungen hinreichen sollte.
Nach seiner Metaphysik, die in dieser Beziehung wirklich diesen Namen verdient, bieten diese einfachen Wesen uns Erscheinungen dar, also ein Bild ihrer selbst, das ihnen nicht mehr und damit auch nicht der Realität zuzurechnen ist, und räumliche und zeitliche Bezüge wären dann eine Konstruktion des Subjekts, oder wie das Modewort damals hieß, des Ich.
Diese einfachen Wesen, und einfach sollten sie sein, weil sie nur über eine Qualität verfügen, und das sei die Selbsterhaltung, sollen dennoch die vielfältigen Erscheinungen hervorrufen, mit denen wir es in der Natur zu tun haben, die man dann aber als mögliche Gedankengebilde weniger zu achten hätte. Solche kleinen Zauberer, die zudem eben die Realität ausmachen sollen, könnte man aber gar nicht genug achten. Ich bin allerdings der Meinung, dass die Wirkung der einfachen Wesen bis in all die Erscheinungen, mit denen wir es zu tun haben, hineinreicht. Dann entfällt auch die Bedingung, dass sie einfach sein müssen und nur über die Qualität der Selbsterhaltung verfügen, dann können es ganze Welten sein, man stelle sich vor, jedes Teilchen der Mikrowelt könnte eine ganze Welt sein.
Gustav Theodor Fechner, den wir letztens in Berlin zu Gast hatten und der immerhin die Poesie gelten lässt, zog nun die Materie zu Atomen zusammen, die nach seinen Vorstellungen mathematische Punkte seien, wo dann freilich gar kein Platz mehr ist für jegliche Qualität, sondern sieht solche nur in den Beziehungen der Atome zueinander.
Fechners Lieblingsdichter ist Friedrich Rückert und ich will hier sinngemäß einige Verse von diesem wiedergeben:
Nicht fertig ist die Welt, sie ist im ew’gen Werden
Und ihre Freiheit möcht‘ die Deine nicht gefährden
Mit totem Räderwerk greift sie nicht in Dich ein
Du bist ein Lebenstrieb ihr, groß wie klein
Sie strebt nach ihrem Ziele zu – mit allen Geistern ringend
Und nur, wenn auch Dein Geist ihr hilft, wird’s ihr gelingend
Das kommt schon der bei Dante in seiner Monarchia entdeckten Verantwortung der Menschheit für die Natur, also all das, was die Menschheit ist und sie umgibt, sehr nahe.
Wir wollen auch noch einen Unbekannten aus der Versenkung holen, den Fechner in seinem Buch Zend Avesta zitiert, einen gewissen Schaller:
Es ist nicht nur eine poetische Lizenz, wenn die ganze natürliche Umgebung des Menschen als empfindend dargestellt wird, wenn der Mensch die Natur zum Mitgefühle auffordert, wenn er sie befragt, wenn er ihr seine Freude, sein Leid mitteilt.
Einem religiösen Menschen mag es ungewöhnlich erscheinen, sich mit der Bitte um Mitgefühl nicht an Gott, sondern an die Natur zu wenden und ist vielleicht ein Rückfall oder auch eine Rückbesinnung an die Zeiten, wo Gottheiten in der Natur verehrt wurden. Wohl indem die Natur immer mehr erkannt wurde, wurden die Gottesvorstellungen immer mehr vergeistigt und auf einer Wolke schwebend mit seinen Engeln zur Seite denkt ihn sich wohl heute keiner mehr, und dennoch sagt die Sixtinische Kapelle mit der Erweckung Adams durch Gott sicher etwas Wahres aus.
Auch Fechner ist sehr gottesfürchtig und nimmt die Elemente der Natur, wie die Mutter Erde nur vorsichtig mit hinzu, während in der Metaphysik Herbarts von Gott gar keine Rede ist.
Sollte man nun so weit gehen, dass man der Realität nur die einfachen Wesen zurechnet und diese vielleicht sogar als die Leibnizschen Monaden ansehen, diese fensterlosen Wesen, in denen es aber bei weitem nicht so einfach zugehen müsste. In praktischer Hinsicht, ist das eigentlich sehr egal. Sollten wir auch nur in einer Scheinwelt leben, die aus diesen Wesen heraus uns vorgespiegelt wird, so hätten wir doch eine andere Verantwortung daraus, und Trost käme uns ohnehin nur von Subjekten, die wir auch als solche anerkennen.
Dann doch lieber den Trost und gleichzeitig die Verantwortung etwas näher und für jeden erlebbar, angefangen von unserem eigenen Geist und Körper, über unser Haustier oder die Zimmerpflanze bis hin zum Klimawandel, und nicht zu vergessen die anderen Ichs, an denen wir das alles schon lange üben können, sollten wir über eine Moral verfügen, und die uns eine Folie sein sollten, wie wir uns das allerkleinste und allergrößte vorzustellen hätten.
C. R. 20.4.2023