Die Deklination der Atome
Wenn hier von Atomen die Rede ist, so könnten das auch andere Urkörper sein, wie zum Beispiel die Lichtteilchen, die Photonen oder die Globuli, wie sie Newton nannte, der, nachdem er der Welt die hellsten Erkenntnisse und seine drei Axiome geschenkt hatte, dann jahrelang im Buch der Bücher suchte und es nicht bekannt ist, was er dabei dann noch gefunden hätte.
Vielleicht hätte er in einem Buch mit vergleichbarer poetischer Kraft suchen sollen, das Lukrez verfasste, der seinem Vorgänger Epikur vor allem in einem nicht folgte, dass er versuchte, die Welt poetisch zu fassen, was jener abgelehnt hatte, genau wie eben der weise Platon die Dichter aus der Akademie verjagte.
Trotzdem hält sich heute hartnäckig die These, der auch ein wichtiger Erfinder einer speziellen Geometrie, die Einstein dann für seine Allgemeine Relativitätstheorie weiterentwickelte, Bernhard Riemann wohl vertrat, dass in den Bereichen, in denen wir uns nicht so genau auskennen können, weil sie vielleicht jenseits des Erfahrbaren liegen, die Poesie als Kriterium für die Stimmigkeit der Ansichten darüber dienen könnte.
Gönnen wir uns eine Kostprobe:
Dass die Körper des Stoffs, da sie senkrecht fallen im Leeren
Durch ihr eignes Gewicht, in nicht zu bestimmenden Zeiten,
Noch am bestimmten Ort von der Bahn abtreiben ein wenig.
Wenig, soviel du nur magst die mindeste Änderung heißen.
Fände dieses nicht statt, so fielen die Körper gerade
Wie die Tropfen des Regens herab, durch Tiefen des Leeren:
Anstoß würde nicht sein, nichts würd‘ auch treffen zusammen;
Und so hätte Natur nichts bilden können noch schaffen.
Lukrez, Über die Natur der Dinge, 2. Buch Vers 217-224
Dieses Abtreiben von der vorbestimmten Bahn, das gerade ist eben die Deklination der Atome, was ja so viel heißt wie Ausbeugen, das man wiederum einer äußeren Gewalt oder einer gewissen Autonomie zuschreiben könnte, oder eben, wenn man es ganz profan haben möchte, dem Chaos oder dem Zufall. Letzteres geht mir aber gefühlsmäßig gegen den Strich, was allerdings ohne jegliche Bedeutung sein mag und jeder sich Gedanken nach freiem Gusto darüber mache.
Befragt man noch mal den Poeten Lukrez, der nicht alt wurde und über den wenig verbürgt ist, so gibt er auch davon ein Bild, was diese Körper sein könnten:
Nämlich die Stoffe kichern und werden vom Lachen erschüttert,
Oder ein Tränentau fließt ihnen die Wangen herunter.
Auch verstehen sie klug von der Mischung der Dinge zu sprechen,
Forschen den Stoffen nach, aus welchen sie selber gemacht sind.
Sintemal sie belebt und gleich sind eignen Geschöpfen,
Müssen aus anderen Stoffen auch sie zusammengesetzt sein,
Diese wieder aus andern, dass nirgends ein Ende zu finden.
Denn ich folgere fort: was spricht und lacht, wie du sagest,
Klug auch ist, das besteht aus andern, die Gleiches vermögen.
Lukrez, Über die Natur der Dinge, 2. Buch Verse 975 – 985
„Belebt und gleich eigenen Geschöpfen“, ja das sind ja auch wir Menschen, d. h. die gesamte Menschheit, aber auch der ruhende Stein. Und jedes bestehe wieder aus anderen, „die Gleiches vermögen.“
Da trägt es den Dichter hinaus zu Höhen, die der tiefere Grund sind, warum man sie verjagen sollte, wohl aber zumindest ihnen mit Skepsis begegnen.
Wie weit nun lehnen sich Naturwissenschaftler aus dem Fenster, von den Dichtern und Philosophen wollen wir einstweilen pausieren, wie zu guter letzt noch von Henri Bergson, der gegen Einstein die Auffassung zu begründen suchte, dass es eine Vielzahl von nebeneinander existierende „erlebte“ Zeiten geben könnte, und zu hören bekam, dass dieser die „Zeit der Philosophen“ wegen deren Inkompetenz ablehne. Also wieder eine der Härten, von denen uns schon Epikur heilen wollte.
Der Nobelpreisträger Ilya Prigogine feierte schon das Ende solcher Ausrutscher, indem er sagte:
Unsere Wissenschaft ist endlich zu einer physikalischen Wissenschaft geworden, denn sie hat endlich eingeräumt, dass die Dinge, und nicht nur die belebten Dinge, autonom sind.
Ilya Prigogine: Dialog mit der Natur, S. 293
Wie weit ist man noch bei diesem „Einräumen“ einer Autonomie davon entfernt, diesen Entitäten, die etwas sehr abstraktes sowohl als auch ganz konkretes sein können, einen fließenden Tränentau zuzuschreiben.
Doch kehren wir zurück zu Lukrez, der fabuliert frank und frei weiter:
Und so sind sie wirklich beraubt jedweder Empfindung?
Endlich, wenn jeglichem Tiere zu seinem Empfindungsvermögen
Stoffe empfindsamer Art sind beizulegen,
so möchte‘ ich wissen, woraus der Mensch doch eigentümlich bestünde?
Lukrez, Über die Natur der Dinge, 2. Buch Verse 970-975
Einen wahren Reichtum legt Lukrez da in den Menschen, aber auch jeglichen Stein, Pflanzen und Tiere. Es hat etwas für sich, so zu denken, weil wir mit Epikur und Lukrez in einer versöhnten Welt leben, in der dann, mehr dem Politischen zugeneigt, Dante sogar ein Ziel ausmacht.
Fügt sich da nicht ein Bild zusammen, das jenseits allen Haders um Realität oder nicht, um Materialismus oder nicht, um die verschiedensten Religionen, die Menschheit wirklich versöhnt, nach dem das Sehnen seit jeher geht und die Grundlage des Friedens ist. Die Grundlage des Strebens allerdings, das vielleicht ebenso wichtig ist, ist das Vorhandensein eines, wenn auch vagen Zieles, das allein sinnstiftend scheint.
„Überall beobachten wir vielfältige Experimente, deren Ergebnis ungewiss ist und von denen einige gelingen, während andere nur von kurzer Dauer sind“, wollen wir Prigogine und Isabelle Stengers 1980 schließen lassen.
Gern würden wir diesen Optimismus teilen. Doch wie viele sehen wir, die ihr Leben einfach dahinbringen, vielleicht auch das: eines der Experimente. Man soll sich ja auch nicht über Gebühr in Geistiges hineinsteigern, wenn einem im Streben nicht gerade diese eine der Aufgaben zugedacht ist.
Auch Lukrez war ein solcher Träumer und Optimist, wenn er sagt:
Dass die Natur für sich so heiß nichts fordert, als dass wir,
Ist nur der Körper von Schmerzen befreit,
des Geistes genießen,
Frohen Gefühls, entfernet von Furcht und jeglicher Sorge.
Lukrez, Über die Natur der Dinge, 2. Buch Vers 16-18
C. R. in Zeuthen, den 17.5.2023