Compositio Oppositorum
Die Welt scheint aus klaren Widersprüchen zu bestehen: Innen und Außen, kontinuierliches und körniges, ruhendes und bewegtes, Vakuum und Materie, fernes und nahes, Großes und Kleines, Vergangenes und Gegenwärtiges, Alles und Nichts, Sein und Nichtsein und was da noch mehr an Gegensätzen ist.
Von Herbart haben wir gelernt, dass es sich beim räumlichen und zeitlichen vielleicht nur um Erscheinungen handelt und Nikolaus von Kues gab ein anschauliches Beispiel für eine coincidentia oppositorum, indem er den Vorgang betrachtet, dass man zwei zur Geraden verschmolzene Stäbchen so verlegt, dass sie einen spitzen Winkel bilden und diesen Winkel immer weiter vergrößert, bis er 180 ° ist und die beiden Stäbchen wieder eine Gerade bilden, oder eben bis 360 ° und die Ausgangssituation wieder hergestellt ist. Man kann das auch umgekehrt betrachten, indem man ein vormals gerades Stäbchen etwas knickt und dadurch ein großer stumpfer Winkel entsteht, den man bei weiterem Tun immer mehr verkleinert, bis der dann spitze Winkel so klein ist, dass sich wiederum eine Gerade ergibt.
Das alles kann man in Gedanken verfolgen und die aus einer Einheit hervorgegangene Dreiheit – zweier unterscheidbarer Dinge (geknickter und nicht abgeknickter Teil) und eine Qualität (Winkel) – wieder in eine Einheit übergehen, wodurch die Qualität nicht vernichtet wird, aber nicht mehr wahrnehmbar ist. Sehen wir so ein gestrecktes Stäbchen vor uns und haben schon mal das Kuessche Experiment gedacht, so kennen wir die Möglichkeit, dass es zwei sein könnten oder auch selbst einen Winkel bilden, diesen vergrößern oder verkleinern und schließlich wieder so daliegen als wäre nichts gewesen.
Man kann das Kuessche Experiment auch auf die Spitze treiben und den Winkel der Stäbchen immer weiter vergrößern oder verkleinern, wodurch uns eine weitere Qualität entgegentritt: das Periodische, denn alle 180 oder 360 ° hätten wir die gleiche Situation, der coincidentia, aber um den Verstand nicht zu verlieren über diese triviale Betrachtung, bei der eine neue Qualität hinzukäme, nämlich die der Periodizität, braucht es eine Begrenzung, sonst setzte sich dieser Gedanke bis zur Langenweile bis in alle Ewigkeit fort, und es könnte dabei wohl auch noch etwas ganz Neues entstehen, das wir noch gar nicht ahnten, weshalb etwas Schöpferisches einsetzen muss, das wir als compositio bezeichnen wollen.
Überhaupt den Einfall zu haben, so ein Stäbchen zu knicken ist ein elementarer schöpferischer Akt, oder zwei Stäbchen so zu legen, dass sie einen spitzen oder stumpfen Winkel bilden oder deckungsgleich sind.
Besondere Schwierigkeiten dürfte die compositio oppositorum bei: das Große und das Kleine haben. Das Größte, was wir uns vorstellen können und dem das Interesse vieler Menschen gilt, ist das Universum, das wir uns als Kugel vorstellen mit einem Radius von 1026 m. Das ist hunderttausendmal größer als unsere Galaxis, die Milchstraße, und messen wir am Gang körniger Lichtteilchen (Photonen). Von diesen Lichtteilchen können wir nur sagen, dass sie sich uns als körnig zeigen und nicht anders, dass das aber nicht ihr ganzes Sein ist, denn um ihr Auftauchen oder Verschwinden zu beschreiben, müssen wir Periodizitäten heranziehen, die uns an das unaufhörliche Anbranden an der Küste erinnern. Ein Lichtteilchen einer genau bestimmten Farbe ist ewig und kann in jedem Moment erscheinen, scheinbar altert es auch in keiner Weise, wenn wir das nicht hineinkomponieren.
Haben wir zwei Punkte A und B im Raum, was nach Herbart eine Illusion ist, aber wir uns nun mal nicht anders denken können, und von A geht ein Lichtteilchen aus, so sagt der Common Sense, dass, wenn es in B registriert wurde, es sich auf einer geraden Bahn dorthin bewegt haben sollte. Das lässt sich aber nur korrekt beschreiben, wenn man alle Wege, die nur möglich sind, einbezieht, so verschlungen oder krumm sie auch sein mögen. Es gibt da nicht nur diesen einen, geradlinigen Weg, sondern unendlich viele, wobei wir bei einem weiteren oppositorum, dem einen und dem unendlich vielen angelangt wären. Meistens kommen wir da mit dem Common Sense zurecht, sonst hätte er auch keine Berechtigung, aber es gibt Erscheinungen, bei denen man ein Mehr an Wahrheit – unendlich viele Bahnen oder ein Kontinuum – einbeziehen muss.
Das Licht aber ist sicher das größte der Rätsel und so wollen wir zum noch ungeklärteren übergehen – der Gravitation – oder wenn man so will – der Kraft. Wenn ein Körper einer Kraft ausgesetzt ist, so kann man das manchmal an einer Deformation erkennen, was man zum Beispiel an einem Wassertropfen auf einer Glasplatte erkennen kann. Geht man aber ins Mikroskopische über und betrachtet zum Beispiel ein Proton, so kann man diesem in keiner Weise mehr eine wirkende Kraft ansehen. Wir sind es gewohnt, das dann von einer einsetzenden Bewegung her zu beurteilen, die aber Zeit braucht. Im ersten Moment der Kraftwirkung ist nichts zu sehen, diese Information kann dann nur unsichtbar gespeichert sein. Im Großen ist ein Beispiel für so eine deformierende Kraftwirkung die Bewegung der Wassermassen auf der Erde unter der Anziehungswirkung des Mondes – die Gezeiten. Im Mikroskopischen versagt dieses Bild und wir können uns nichts vorstellen, was in einem mathematischen Punkt gespeichert sein könnte, für den Moment des Einsetzens, und müssten unter Umständen unendlich lange warten, bis sich eine Wirkung zeigt.
Zu unseren Compositios gehört aber inzwischen auch, dass wir wissen, dass die Leere, das Vakuum angefüllt ist mit unendlich vielen potenziellen Teilchen, die daraus unter Energiezufuhr ins Wahrnehmbare treten können und sich Materie und Antimaterie unter Energieabgabe zu Vakuum vereinigen können.
Das führte, nebenbei bemerkt, die Monisten auf den Schluss, dass das einzige Wesentliche Energie sein könnte, aber in unseren Compostioversuchen wollen wir diesen Gedanken als zu dröge verwerfen.
Alles, was wir von der Gravitation wissen, ist wieder im Common Sense, dass deren Wirkung mit dem Quadrat des Abstandes abnimmt (Newtons Gravitationsgesetz) und dass man deren Wirkung durch Bewegung aufheben kann – im einfachsten Fall durch kreisende Bewegungen und bei näherem Hinsehen durch Kepler, durch bestimmte elliptische Bahnen, wie wir an den Kosmonauten in den Raumstationen sehen, wenn wir uns die Räumlichkeit wieder durch eine oder mehrere Kugeln versinnbildlicht denken. Für eine Ebene wäre das dann eine Parabelbahn, wie man sie von Geschoßbahnen oder dem Parabelflug kennt, und der Common Sense versagt schon bei der Frage, ob man schwerelos auch schon im aufsteigenden Ast ist.
Kann man also die Gravitationswirkung für eine als Monade angesehene Raumstation nur durch geeignete Bewegung aufheben? Nein, das ist nur im Äußeren der Fall. Im Innern einer Kugelschale, die die Gravitationswirkung ausübt, ist man auch in Ruhe schwerelos. Was wäre das für eine Freizeitparkidee, wäre die Erde eine Kugelschale möglichst geringer Dicke: Man könnte schwebend an jeden denkbaren Ort gelangen mit dem geringsten denkbaren Energieaufwand. Nur indem man den Raum zur Illusion erklärt, wie das die Griechen auch mit der Bewegung an sich, die wir ja an Raum und Zeit festmachen, auch schon erdacht hatten. Ein Pfeil, in genügend kurzer Zeit betrachtet (Sport- oder Hochgeschwindigkeitskamera) ist immer ruhend (Parmenides, Zenon).
Meines Erachtens ist das zeitliche bei der etwas fragwürdigen Betrachtung von Kraft und Energie nicht ausreichend berücksichtigt. Wenn sich in B ein Teilchen befindet und in A taucht eins auf, liegt mit einem Mal eine Kraftwirkung vor und beide besitzen instantan eine potenzielle Energie, die offenbar mitgeteilt sein muss. Dann wäre das Teilchen „außen“ entstanden. Entsteht das Teilchen im Punkt A und ist B eine Kugelschale, die A umgibt und der Einfachheit halber als homogen, also gar nicht irgendwie körnig gedacht sein soll, so hat das neu entstandene Teilchen keine potenzielle Energie, aber die Kugelschale, der dies in irgendeiner Weise mitgeteilt werden müsste. Wir sind es gewohnt, oder ist jedenfalls der Common Sense, dass sich eine Wirkung nicht schneller ausbreiten kann als mit Lichtgeschwindigkeit und kennen bisher nur ein Beispiel, wie das instantan über beliebige Entfernungen funktionieren kann – bei verschränkten Teilchen. Diese Wirkung hat sich aber als komplett selbstbestimmt herausgestellt, sodass man sie nicht weiter nutzen kann.
Das instantane Entstehen von Teilchen (Paarerzeugung) steht auf der Roadmap für verfügbare Laserleistungen noch in weiter Ferne. Wenn da der Energiehaushalt genau festgestellt werden könnte, ergäben sich daraus interessante Aspekte. Der Sitz der potenziellen Energie wäre doch ganz unterschiedlich. Entstünde es im Zentrum des Universums, das wir uns als homogene Kugel denken mit einer Dichte von etwa einer Protonenmasse pro Kubikmeter, müsste das Universum auf irgendeine Art mit potenzieller Energie versehen werden, die etwa 10 % der Eigenruheenergie des Neugeborenen entspricht. Entstünde es dagegen am Rande des Universums, wäre das Teilchen mit ca. 7 % potenziellem Energieanteil an seiner Eigenenergie zu versehen und der gleiche Betrag dem Universum „mitzuteilen“. Man kann sich auch fragen, welchen Anteil die potenzielle Energie an der Eigenruheenergie des Universums ausmacht. Das sind so etwa 4 %.
Dieser Artikel sollte zum Mitdenken einladen, denn bei der Compositio sind alle gefragt, weil doch die Natur die Menschheit zu dem Zweck erschaffen hat, um ihr Ziel zu erreichen, das unter anderem darin bestehen könnte, sich selbst ein wenig besser zu verstehen.
C.R. 5.8.2023