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Die Wahrheit nach 35 Jahren

Die Wahrheit nach 35 Jahren

Keiner der vielen Historiker, auch derer, die sich mit der Neuzeit beschäftigen, hat je die Quellen befragt, wie es 1989 zum Mauerfall kam und was am Mittwoch davor geschah. Dabei liegen sie in Fernsehaufzeichnungen offen, nicht der angeblich so freien Presse und des Fernsehens des „freien Westens“, sondern denen des sog. Unrechtstaates. Als wir den Platz vor dem Zentralkomitee, das heute Außenministerium ist, betraten, drängten sich auf den Treppen diese angeblich freien Medien, aber das war nicht das, was wir wollten. Wir wollten die DDR von Grund auf reformieren. Dabei war das greise Politbüro nicht unser Feind, wie es überhaupt christlicher Gesinnung entspricht, seine Feinde als nicht absolut verloren und einem grausen Schicksal überlassen zu sehen, sondern es waren ja gewesene Widerstandskämpfer, die an der Malaise litten, am besten wissen zu wollen, was für das Volk gut ist. Unseren Ordnungsgruppen war es ein leichtes, die Sensationsreporter nach Hause zu schicken und uns auf eine Bewegung zu stützen, die einfach da war und sogar die rechtschaffenden Teile der DDR Medialen bewegten, die ganze Veranstaltung aufzuzeichnen. Wir hatten keinerlei Plan, was da gesagt werden sollte, aber die Redner standen Schlange und wir sortierten nach Herzblut, das vielen von den Genossen überging. Immer wieder trafen Meldungen ein, dass Kreis- und Bezirksvorsitzende von der Parteibasis gestürzt worden waren. Es ging den ungerechtfertigten Privilegien an den Kragen und in diesem grandiosen Schachspiel mit dem Aufwallen vieler guter Gefühle, gab es für die Führung nur noch einen Ausweg: Irgendeine Situation des Chaos zu schaffen, das entweder in einem Militärputsch oder dem Nachgeben des Freiheitswillens der Bevölkerung, der sich vor allem in dem Wunsch zur Reisefreiheit äußerte und dem man am Montag noch zu entsprechen versucht hatte, indem man ein mehr oder weniger verschwiemeltes Reisegesetz verabschiedet hatte. An diesem Mittwoch nun, stand die Parteibasis auf und es kam zu spontanen Reden aus reinsten Herzen („Wes Herze voll ist, dem quillt der Mund über“), wie sie die Partei oder die sog. demokratischen Organe noch nicht gesehen oder gehört hatten.

Jeder der Mitglieder des Zentralkomitees verfügte über eine Handfeuerwaffe russischer Bauart (Makarov), aber man hörte nie, dass jemand Gebrauch davon gemacht hätte, außer vielleicht zur Selbsttötung. Auch an diesem Nachmittag und Abend vor dem Mauerfall, blieben diese ungebraucht.

Wenn wir heute, wieder mal im November vor einer großen Krise stehen, so kommen alle Maßnahmen zu spät. Das Ende der Ampel und die Wiedereinführung der Wehrpflicht verschwistern sich zu einem Schreckensszenario. Jahrzehnte der Dekadenz lassen sich nicht wieder zurückdrehen. Keiner will mehr unsere Söhne und jetzt auch noch die Töchter in einem Krieg sehen.

„Mir ist nicht bange um Deutschland, ich fürchte um meine Söhne“, sagte eine Mutter zu mir. Dann müssten wir wohl endlich lernen, die Klappe zu halten und wirkliche Mächte Mächte sein zu lassen. Wir haben uns für die Seite der Dekadenz entschieden und sind dessen nicht gewahr, wie schwach wir schon sind.

Vertrauen wir nicht auf unsere Waffen, die ohne Mutige, die sie führen völlig wertlos sind, sondern erinnern uns, wie der Ruf nach Gewaltfreiheit damals die militärische Lösung ausgeschlossen hat. Versuchen wir das russische Volk zu verstehen, das wir schon seit dem dritten Reich in die Enge getrieben haben und dieses gefährliche Spiel angesichts des Bruderkrieges in der Ukraine immer weitertreiben, versuchen wir es auch dieses Mal ohne Waffen und Gott stehe uns bei. „Nach innen führt der Weg“, Novalis.

CER 8.11.2024