Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Was da zu bedenken ist – eine Gastkolumne

Was da zu bedenken ist

Eine Gastkolumne von TS

Es stimmt sehr nachdenklich, wenn man zunehmend Leuten begegnet, denen ein gewünschtes selbst erschaffenes und starres, irgendwie introvertiertes Geschichtsbild lieber ist als eine lebendige Wahrheitsfindung. Die Kolumne, betitelt mit dem Zitat von Rosa Luxemburg “Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, vermittelt ein solches Geschichtsbild.
Auf den ersten Blick interessant und bildungsträchtig formuliert, sollte man einen zweiten Blick wagen, um auf zahlreiche fragwürdige Behauptungen und die Herstellung vermeintlicher Zusammenhänge zu stoßen.
Im Grunde handelt es sich in dem Beitrag um das Bekenntnis antidemokratischer Vorstellungswelt und die Auffassung, dass, gelinde gesagt, starke entscheidungs- und durchsetzungsfähige Führer die bessere Wahl für gemeinschaftliches Zusammenleben sind. Hier ist schon das zunächst eher oberflächliche Spannungsfeld interessant: J. D. Vance argumentiert bislang von der Rettung der Demokratie im ausschließlichen Sinne einer umfänglichen „Meinungsfreiheit“, nicht aber bezüglich eines wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs der Demokratien Europas, wie es der Autor anklingen lässt. Auch nur nebenbei, die Sehnsucht nach einem König von Deutschland ist erfüllt. Er hat sich selbst dazu ernannt und heißt Peter Fitzek aus Wittenberg. Auf einer Wahlliste steht er aber wohl nicht. Vermutlich wird deshalb die Sinnhaftigkeit von Wahlen angezweifelt.
Bemerkenswert ist die Darstellung, statt von „links“ und „rechts“ von „realistisch“ und „schwärmerisch“ zu sprechen. Es mag eine historische Momentaufnahme sein, wo gerade checks & balances – man kann das auch auf das derzeitig sich herausbildende Kräfteverhältnis in der Welt beziehen – aus den Fugen gerät, dies für aktuellen Realismus zu halten. Für weite historische Zeiträume darf das klar bezweifelt werden. Das gilt sicher auch für Utopie und Fortschritt deutlich in Zusammenhang gestellt und Diktaturen zugesprochen.

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein llltum

Ernst Jandl

Der Feind in Vance´schem Duktus steht im eigenen Land? Die Medien jagen die Menschen in Angst? Und in dem Stile – hier aber Gottseidank nicht behauptet – Hitler war Kommunist. Das ist Realismus? Man müsste etwas dazu sagen, aber es macht vorerst nur sprachlos.

In schwärmerischer, unrealistischer Manier weiter:

J. D. Vance hat neben der Meinungsfreiheit höchstens noch am Rande das Thema der Migration kritisch vermerkt. Was ist mit der Kritik an der Meinungsfreiheit in Europa gemeint? Was ist beabsichtigt mit dieser Kritik? Und was geschieht wirklich?

Man sollte Namen, Begriffe und deren aktuell gedeutete Beinhaltung auseinander halten. Auch jenseits wertender Medien gibt es genügend originale Belege in den USA derzeit dafür, dass die beworbene Meinungsfreiheit sich auf die eigene bezieht und der Eindruck kaum zu entkräften ist, dass die „Meinungsfreiheit des anderen“ eingeschränkt und bekämpft wird. Es geht hier nicht um Meinungsfreiheit, es geht hier um Erringung von Machtfreiheit eines Teils der Gesellschaft gegenüber dem anderen. Es geht nicht darum, ob etwa die AfD mundtot gemacht würde, was sie ja sehr lautstark und unablässig behauptet. Eine wirklich absurde Behauptung. Es geht, von Vance u.a., ganz unumwunden zum Ausdruck gebracht, um die Machtbeteiligung der AfD im Parlament etwa. Nicht die Meinungsfreiheit in seiner herkömmlichen Definition ist das Ziel, sondern die Machtergreifung über die Mittel demokratischer Verfassungen. Ein eindrücklich bekannter Weg.

Nun haben Gesellschaften, ob Demokratien oder Diktaturen sowie Mischformen alle ihre begrenzte Lebenszeit gehabt. Vielleicht ist das alte Europa ein bisschen zu müde und bequem geworden und nun überrascht, wie schnell sich Existenzbedingungen brachial ändern können. Vielleicht hat man sich auf der jahrhundertealten Vorherrschaft Europas ausgeruht und zu selbstsicher und unantastbar gefühlt. Vielleicht hat man sich bis heute auf die Gemeinschaft ältester Demokratien gemäß deren Verfassungen allzu sehr verlassen. Das ist es, was den Menschen hierzulande Angst bereitet, neben anderen Krisenherden, ja auch das Migrationsproblem, das übrigens nicht geleugnet werden soll, nicht die Medien, die offenbar krisenhafte Ereignisse etwa im Aartal wie jegliche andere Katastrophen einfach nur verschweigen sollten. Ja, die zu bewältigenden Herausforderungen machen Sorge. Das ist aber nur eine Momentaufnahme. Und man kann und muss sich dem sicher stellen. Mit der Staatsform selbst hat das zunächst wenig zu tun. Vielmehr scheint es so, als seien langfristig Demokratien sehr viel dauerhafter und erfolgreicher als Diktaturen. Das gilt für die Prosperität diverser Gesellschaften, für den Wohlstand der Bevölkerung, für Entdeckungen und wissenschaftlichen Fortschritt, Kultur und Bildung usw. Zumindest gilt dies für den überschaubaren Bereich der Geschichte und eben gerade auch der europäischen: Ca. 270 Jahre attische Demokratie, ca. 500 Jahre römische Republik gegenüber Kaiserzeit etwa 350 Jahre ausgenommen Ostrom bzw. das Byzantinische Reich. Wobei in der Kaiserzeit republikanische Errungenschaften streckenweise beibehalten oder wie das uns noch prägende römische Recht entwickelt wurden. Gleich ob repräsentative Monarchie oder Republik seit 1688 Großbritannien, 1776 USA, 1789 Frankreich, polnische Verfassung 1793, 1795 durch Preußen, Habsburg, Russland zunichte gemacht und Polen nur durch den Katholizismus zusammengehalten erst 1918 unabhängig mit einer eher traurigen Geschichte usw. Demgegenüber in Europa die eindrucksvollsten Diktaturen: Italien 23 Jahre, Franco-Spanien 41 Jahre, wenn man 1936 zugrunde legt, Deutschland 12 Jahre, Sowjetunion um die 70 Jahre, DDR u.a. um die 45 Jahre. Demgegenüber die USA, die bis heute in der Moderne doch eigentlich einen sehr erfolgreichen und andauernden Weg zurückgelegt haben mit ihren bisherigen demokratischen Institutionen.

Aber selbst, wenn man der Gesinnung ist, dass diktatorische oder diktatorisch angehauchte Staatsformen effektiver seien als demokratische, da sie der „Demokratieumständlichkeiten“ nicht bedürfen, muss man schon ein Narr oder gefühllos sein, sie sich herbeizuwünschen unter den aktuell gegebenen Bedingungen, so es die absehbaren Lebensbedingungen im eigenen Umfeld des Selbst, der Familie, dem Land aller Aussicht nach zu verschlechtern droht.

trübe gedanken
juchheissassa

trÜBE Gedanken
Juchheissassa

trÜbe geDANKen
Potz Blitz

das Leben ist
ein Witz
voll bitt´rem Ernst.

ts

Also genug der schwärmerischen Realismus-Verweigerung. Hoffen wir und beteiligen wir uns nach Vermögen, die bestehenden Herausforderungen „utopisch“ und „fortschrittlich“ und vor allem gemeinsam zu bewältigen, statt sie zu leugnen. Wer ist das eigentlich tatsächlich, wer den Untergang beschwört?

TS – ein Historiker aus Berlin