Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Heimat

Da ich nun im Verdacht stehe, dieses tränenreiche Thema in die Welt gesetzt zu haben, dabei entstand es aus dem Impuls unserer episodenhaft entdeckten Offenheit gegenüber anderen Kulturen, die uns doch in unserer damaligen Heimat, wie man heute sagen würde, „zwang­haft“ nahege­bracht wurde, muss ich wohl auch was dazu schreiben. Das sind nicht nur die Tränen zweier Weltkriege, an denen wir wegen der Gna­de der späten Geburt, wie es der Kanz­ler aller Deutschen mal bonmotmäßig ausdrück­te, gar keinen Anteil mehr hatten. In meinem Fall wur­de einer der Übriggebliebenen mein Vater und eine ebenso junge Frau meine Mutter, die ich später zu beweinen hatte. Damals rissen mich junges Pflänzchen die sich neu eröffnenden Karrie­re­chancen für meinen Vater aus der sächsischen Heimat namens Leip­zig, dessen vornehmes Viertel Schleußig mir nur noch durch das Kohleauto erinnerlich ist, an das wir unser Dreirad im Scherz banden, die Kohlenmänner aber gewissen­los genug waren, damit einfach loszufah­ren, als hätten sie gar nichts bemerkt. So wurde ich also früh mit in Häme gewendetem Hu­mor bekannt und habe diese frühe Heimat auch erst anläss­lich der zen­tralen Messe der Meis­ter von Morgen, der MMM und später noch einmal anlässlich des Ver­kaufs des dortigen Hau­ses, das sich mei­ne Großmutter durch eine durch sie geführte Ballett­schule erworben hatte, das die ganzen Ost­zeiten nichts wert gewesen war und nun gleichsam monitär zum Nachwen­de­glanze neu erblühte, wiedergesehen.
Das Schweizer Haus, das wir zur Miete in einer Siedlungsgegend vor Berlin bewohnten, wur­de dann meine wirkliche Hei­mat. Berlin selbst hätte es nie werden können, denn was kann man da schon tun in der Stadt außer Einkau­fen, einer stark überbewerteten Beschäftigung, studieren, was auf einem grünenden Campus viel angenehmer wäre oder in den Kneipen he­rum­hocken, was mit dem Versiegen der Nei­gung, philosophische Streitgespräche zu führen auch nicht mehr den rechten Sinn hätte, denn wozu sollte man Zunge und Ohr durch Alkohol lockern, wenn die eine nichts zu sagen hat und das andere nichts Sinn­vol­les mehr zu hören bekommt.
So bekam ich in der kleinen turbulenten Welt unseres Sechskinderhaushalts jeden Tag et­was zu hören: Lass das, mach das, wenn ihr so weitermacht, stecke ich euch alle ins Heim. Das Heim hätte also glatt meine dritte Heimat werden können, aber daraus wurde nichts. Wir be­ka­­men Schkid vorgelesen, aber ins Heim kam keiner von uns. Flausen durch Arbeit, Sport, Ehrgeiz und Musikinstrument zu verscheuchen, war damals die Norm, und der Fleiß pflanzte sich in mich ein und wirkte lange, bis es dann einmal zu viel geworden ist, und seitdem gelte ich als fauler Zeitgenosse und fühle mich auch selbst so.
Meine Mutter dagegen blieb fleißig bis an ihr Lebensende und geistig regsam, denn sie starb keines natürlichen Todes. Und mit ihr ging ein Stück Heimat.
Doch dies hier soll keine Biographie werden, denn der Titel „Heimat“ gemahnt daran, dass dies ein politischer wie auch seelischer Begriff ist. Nun nenne ich eine Republik meine Hei­mat, in der die Politik großgeschrieben wurde, denn man hatte sich nicht weniger vorge­nom­men, als zu Herren der Geschichte zu werden, nicht in dem Sinne, wie die Nazis das durch Orga­ni­sation versucht hatten, nicht um sich über andere zu erheben („und nicht über und nicht un­ter, andern Völkern woll’n wir sein“). Man hatte nur entdeckt, dass das Weltgeschehen kei­nen zufälligen, sondern vielmehr einen gesetzmäßigen Gang nähme, womit man sich vierzig Jahre abmühte, wobei man vermeinte, dass man die ganze Sache im Grunde schon verstanden hätte und es nur noch auf eine mehr oder weniger geschickte Anwendung des Entdeckten an­käme.
Da wir uns beim Pioniertuch oder gar FDJ-Hemd nichts weiter dachten, als dass dies der rich­tige Weg dorthin sei, kam als krönender Abschluss dann noch ein A6 Büchlein in der Farbe der Arbeiterklasse, der des Blutes, hinzu und wir hätten uns auf bestem Wege gefühlt, wenn nicht alle um uns auf unerklärliche Weise immer müder, niedergedrückter geworden wären, weil die Sache keinen rechten Fortschritt mehr nehmen wollte. Die Heimat gehörte zwar un­zweifelhaft uns, keiner verbot auf unbewirtschafteten Grundstücken Fußball zu spie­len, keiner wehrte einem den Eingang in einen Wald oder an einen See, wenn sie nicht gerade von der Ar­mee oder unseren Vorderen mit Beschlag belegt waren. Das war nun wirk­lich ein Skan­dalon, dass sich einige schon einen besseren Sozialismus gemacht hatten und was eigent­lich nur als Zugeständnis an die menschlichen Schwächen in der Übergangs­phase zum Kom­mu­nismus gedacht war, hatte sich ziemlich verfestigt.
Wenn heute „gutbürgerlich“ fast ein triefendes Kompliment ist, so war früher bourgeois Inbe­griff alles Gestrigen bis hin zum Verworfenen. Der Weg nach innen, den uns Novalis so schön nahelegt, war eine Rubrik der Künste, die zwar hoch im Kurs standen, bei denen es aber allzu innerlich nicht zugehen sollte, denn schließlich war man dabei, eine große Aufgabe zu lösen. Wie sollte man das in einem Lehnstuhl ruhend und sich zum Tode hinsehnend denn gut machen können? Die Künstler, die diesen Spagat schafften, dass es Kunst sein soll und trotz­dem politisch relevant, standen hoch im Kurs. Eine Kultur der Innerlichkeit war das nun nicht gerade.
Heute wird das Gegenteil dahingehend instrumentalisiert, dass man alles zu einem inner­lichen Problem macht. Noch die himmelschreiendste Sache wird als Mangel an positiver Ein­stel­lung, ungenügender Eigenliebe des Betroffenen eingestuft. Lass die Dinge geschehen, sie sind gut für Dich, heben tieferen Sinn, erschließe ihn Dir. Damit ist dann auch jeder so gut beschäftigt, dass er nur noch in den seltensten Fäl­len Zeit hat, sich um einen anderen zu sche­ren.
Diese Heimat hieß also erst Zeuthen, dann Wildau, dann Waltersdorf und man konnte zwang­­los die Hohe Tatra, das schwarze Meer, den Kaukasus und das ganze sozialistische, auch Wal­lensteins, Lager hinzurechnen, das war der Marxismus, der trotz weiterer Verfügbar­keit einem nun wegen der Rechthaberei ein bisschen auf den Keks ging, das war die große Fami­lie, die bald wegen blanker Verdienstsorgen den Bach runterging, die eigene Fa­mi­lie, die zur finanziellen Last mutierte, die Physik, von der sich bald erwies, dass sie für die meis­ten auch nur ein Erwerbszweig ist und die Dichtkunst, an der man sich nach Belieben laben kann, die aber keinen weiter interessiert. Von all dem sind also so ungefähr 80% ver­lorenge­gan­gen und da man ohne Heimat nicht leben kann, tut man gut daran, sich eine neue zu defi­nieren.
So kam ich auf die Utopie, diesen Nichtort. Ich machte mir Gedanken darüber und meinte nicht anders, als dass die verlorenen Freunde nun wieder zu einem stoßen würden und all ihre Träume mit in dieses Vorhaben legen würden. Es gibt kaum ein schöneres Wort: Utopie. Allerdings ist es ein Fremdwort, heute mehr als früher. Doch die Freunde bedenken sich, verfallen in Schweigen, wollen nicht, dass man selbst an­hebt zu reden, denn darauf müsste man vielleicht selbst wiederum etwas sagen. Es kommt die unausgesprochene Bitte, denn äußern kann man die ja schlechterdings nicht, ich möchte auch schweigen, und im Übrigen habe man selbst gerade eine Schreibblockade.
Nicht dass nicht noch viel geplaudert würde, was meine Sache leider nie war, aber wie man sieht eben heute jede Arbeit als einen Job, hier ein Rechenzentrumsvergleich: ein Job ist eine Rechenaufgabe, die man erledigt, und wenn dabei eine Kerze, also eine endlose Zahlen­reihe entsteht, dann wird er vorzeitig abgebrochen. In den seltensten Fällen ist man aber das Re­chen­zentrum, das nach Belieben Jobs abbricht, sondern man ist derjenige, dessen Job ein­ge­spart wird und der nicht mehr das Recht hat sich einen festen Platz in seiner Heimat zu su­chen, diesen als Beruf zu beanspruchen, als Berufung gar, denn berufen ist im Grunde keiner mehr. Geh den Weg nach innen, bleib flexibel, wurschtle Dich irgendwie durch.
Da steht man nun und drängt sich auf. Keine Heimat mehr, die zu heiliger Tat ruft. Das Optimum ist, wenn man möglichst wenig verbraucht, also die Spuren seiner Existenz so ge­ring wie möglich hält, denn wir sind nichts als Plünderer der Mutter Erde, rauben Früchte, Öl und Kohle und Stahl und können ihr nicht einmal mehr den Schimmer eines Sinns darbieten, den wir doch schuldig wären, bis dass wir selbst endlich wieder Heimaterde werden.

C.R. 18.2.2012