In Swanns Welt
Erscheinungsjahr: 20er Jahre
Bespr. Auflage: 20. November 2000
ISBN-10: 3518397095
Verlag: Suhrkamp
Der Autor
Man darf sich Marcel Proust nicht als allzu erfolgreich vorstellen, auch wenn er dann den Prix Goncourt erhalten hat, die höchste französische Auszeichnung für Literatur. Musste er sich doch zunächst mit einem Kritiker duellieren und auch sein erstes Buch auf eigene Kosten verlegen. Das Vermögen, das er seiner jüdischen Mutter verdankte, machte ihn jedoch vom Geschmack seiner Zeit weitgehend unabhängig und so soll er dann in einem mit Kork ausgeschlagenen Raum, aus dem das Sonnenlicht verbannt war, seine Werke geschaffen haben , in denen es nun allerdings nicht an Details mangelte. Ähnliches, die Suspendierung des Fernsehens für mindestens ein halbes Jahr, wird auch von der kleinen Schar der Fans empfohlen, die ihn für den größten Autor aller Zeiten halten.
Frauen
Obwohl sie in seinem Leben keine sichtliche Rolle gespielt haben, sind sie in seinen Werken das beherrschende Thema. Das beginnt schon mit seiner eigenen Mutter im ersten Abschnitt, deren gelegentliche Verweigerung eines Gutenachtkusses aus gesellschaftlichen Rücksichten, ihn in Zustände versetzt, wie sie schwerwiegenderen Problemen zukämen, aber nebenhin wird an diesem Exempel ausführlich deutlich, dass die eigene Mutter wohl die einzige Frau ist, auf die man sich im Leben noch verlassen kann. Da er seine, wie auch seinen Vater, allerdings in relativ jungen Jahren verloren hat, steht dann natürlich die Frage, die Generationenfolge nicht unterbrechen zu können und auch die anderen Vergnüglichkeiten zu genießen, die der Umgang mit Frauen bieten kann.
Diese geschlechtliche Liebe wird aber in dem ersten Teil, und zum Lesen nur dieses konnten wir uns bisher verstehen (In Swanns Welt), an einem anderem Protagonisten, einem reichen weltgewandten jungen Mann namens Swann abgehandelt, von dessen familiärer Herkunft wir nun wieder fast nichts erfahren und der genau vor die Aufgabe gestellt ist, sich im Zuge der gesellschaftlichen Verpflichtungen, wenn nicht eine Gattin, so wenigstens eine Geliebte zu suchen. Gesellschaftliche Verpflichtungen bestehen in Paris allerdings darin, tägliche Besuche bei möglichst geistreichen oder wenigstens hochgestellten Personen zu machen, und da ihm letzteres gegeben ist, hat er zunächst auch bei den Geistreichen einen Stein im Brett.
In diesem Kreis, wo „Langweiler“ klar ausgegrenzt sind, lernt Swann eine Frau namens Odette Crécy kennen, die für ihn erst als schön gelten konnte, als ihm die Ähnlichkeit mit Botticellis Sephora einkommt, da er doch ein Kunstliebhaber und -sammler ist und ihn auch die Sonate eines Komponisten, dessen trauriges Schicksal schon im Kindheitsteil des Haupthelden eine Rolle spielte, sehr berührt hatte, dies zur Ouvertüre ihrer Liebe wurde.
Obwohl er bis dahin einen ziemlichen Verschleiß an schönen Mädchen aller Schichten hatte, gelingt es Odette, ohne dass Arglist zu unterstellen wäre, ihn völlig für sich einzunehmen, wenn sie zum Beispiel sagt: „… ich habe niemals etwas vor! Ich bin immer frei, für Sie ganz bestimmt. Wann immer bei Tag oder Nacht es Ihnen angenehm wäre, mich zu sehen, lassen Sie mich nur holen, ich werde immer glücklich sein, so schnell wie möglich zu kommen.“ Nun war Odette allerdings eine Halbweltdame, woraus in dem Roman, vielleicht skandalöser Weise, kein Drama gemacht wird, man aber durchaus miterlebt, dass sich diese anfängliche Begeisterung, die sich ansatzweise dann noch als Unwahrheit herausstellt, in einen von ihr bestimmten Abstand wandelt, wo dann Swann auch genug an Launen auszustehen hat und seine monatlichen 4000 Francs an sie dann nicht mehr so gut investiert scheinen.
Jetzt könnte ein wahrhaft Verliebter, und dass dies notwendig Leiden bedeutet, daran wird kein Zweifel gelassen, völlig abgleiten, seinen vermeintlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen gar nicht mehr nachkommen, aber Proust ist ein bisschen wie Lilienthal, er hat sich vorgenommen, dass der Flug nicht enden wollen soll und fliegt nicht nur über die 564 Seiten dieses Romanteils, sondern weiter und weiter und könnte faktisch gar nicht mehr damit aufhören, nur um Peripetien zu vermeiden, also Unglücksfälle, die dem ganzen Flug dann ein Ende bereitet hätten.
Odettes Seite bleibt dabei allerdings das weibliche Geheimnisvolle, manchmal des Lügengespinsts Verdächtige, das darum aber nicht weniger Überlegene. Indem die Geliebte also die anfangs Hingebungsvolle ist, die wünschenswerterweise auch noch Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen hätte, ist Proust etwas frauenfeindlich. Indem er aber dem weiblichen Prinzip, das Ergebnisse kompliziertester männlicher Überlegungen quasi nebenhin erzielt, als grundsätzlich überlegen anerkennt, rückt er das schöne Geschlecht in die Nähe des Göttlichen, was auch jeder Leserin gefallen mag.
Wie es Swann gelungen sein soll, aus inzwischen aussichtsloser Lage bezüglich dieser Liebesbeziehung, die nie ganz offene Odette zu seiner Gattin zu machen, ist wohl eine so banale Tatsache, dass dafür im ganzen Roman keine Zeile im oft seitenweise absatzlosen Text übrig ist, denn es steht wohl auf dem Buchdeckel.
Das kann weder die in Erfahrung gebrachte Wertschätzung Odettes für Swann in seiner Abwesenheit gewesen sein, noch waren weitere romantische Begebnisse in petto, die den anfänglichen Zauber hätten wiederherstellen können, das war einfach die Zeit. Das unerbittliche Altern steht ungenannt im Hintergrund, die aus Schwäche geborene Vernunft, die dann aber für sich selbst steht und anderweitige Bauchgefühle, die da noch rumoren könnten, letztlich besiegt, so wie auch Napoleon gegen eine noch so einfallslose Welt letztlich keine Chance hatte.
Credo
Die Zeit – das hätte das Credo sein können, denn diese verlockt schon im Titel alle, die erkannt haben, dass sie sie irgendwie verloren haben. Doch wie Proust dem Otto Lilienthal gleicht, der Meter um Meter immer weitersegelt, so gleicht er auch einem Bergmann, der eine unerschöpfliche Mine entdeckt und nun jeden Abend wertvolles Erz mitbringt und nie taubes Gestein, von dem man sich nehmen kann, denn man ist ja Leser, sich einem die Frage aufdrängt, ob das wohl für alle Zeiten so gehen wird, der Bergmann aber nicht antwortet, sondern nur immer in gleicher Weise fortfährt. Die wenigsten wagen dann die Hypothese, dass es etwas Unerschöpfliches geben könne, wollen von der täglichen Ration gar nichts erst wissen. Doch die wenigen, die daran glauben, nachdem sie „leidenschaftlich das Problem der Realität der Außenwelt oder der Unsterblichkeit der Seele zu erfassen versucht haben, ihrem erschöpften Hirn die Entspannung schlichten Glaubens gestatten“, also glauben und an sich spüren, dass sie einen Teil dieses großen Schriftstellers in den Händen halten, ein kostbares Gut, wie sich heute in unserer sprachlosen Zeit herausstellt, nämlich die Beredsamkeit – eine wahrlich unerschöpfliche Mine.
Christian Rempel 24.2.2012