Deckname Petersen
Der einzige Prominente, von dem ich ungefähr weiß, wo er wohnt, ist Günter de Bryun, von dem man allerdings in letzter Zeit nicht mehr so viel hört und der Fischer in Wolfersdorf, bei dem ich einen geräucherten Aal erstand, konnte mit dem Namen schon gar nichts mehr anfangen.
Angefangen hat es in der Rezeption des Gutshauses in Beeskow, wo man der Meinung war, er wohne in Tauche, was im Prinzip auch richtig ist. Nur als ich nach 10 km Fußmarsch in Tauche ankam, sagte eine Blumenverkäuferin, das sei noch sieben Kilometer weiter in Görsdorf und schlug mir einen schönen Feldweg zum Wandern über Wolfersdorf vor. Ich sagte, dass ich de Bryun ein bisschen für borniert halte. Darauf sie, nein, er nicht, aber seine Frau.
Am Wolfersdorfer See also noch den Aal erstanden, schlug ich einen Waldweg ein und kam so gegen 13:30 Uhr am südlichen Ende von Görsdorf an. Kein Mensch war zu sehen und ich wollte auch um die Mittagszeit keinen herausklingeln. Als einziges Lebenszeichen schlich ein schwarzer Landrover am Waldrand entlang und entfernte sich wieder.
Nach meiner ausgiebigen Mahlzeit kam ein Mann auf einem Mountainbike heran, an dem vorn eine große Nummer prangte: 01. Das konnte kein normales Fahrrad sein und mit meinem geübten Instinkt für Leute tippte ich auf irgendeinen Rehapatienten. Als ich ihn grüßte, hielt er tatsächlich an und ich fragte ihn nach dem Weg zu de Bryuns. Das wurde nun eine längere Erklärung, die ich dann auch noch rekapitulieren sollte. Er ließ mich meine Schuhe zeigen und sagte, die seinen total ungeeignet für den Urwald und die Moore, in die er mich zu schicken hatte. Zunächst ging es noch ein Stück durchs Dorf und ich lief noch eine Weile neben seinem Fahrrad der Marke KTM her und fragte ihn, was die Nummer zu bedeuten habe, da zeigte er auf eine kleine 20, die der 01 vorgesetzt war und zusammen bedeutete das das Jahr seines Todes, der infolge eines Frontalzusammenstoßes mit einem LKW eingesetzt hatte. Die Knochen seien wieder ganz, aber er leide jetzt an epileptischen Anfällen. Fahrradfahren dürfe er eigentlich auch nicht, nicht mal ein Haus haben dürfe er, obwohl er früher in Berlin eine ganze Imbisskette hatte. Dann signalisierte sein Handy die Kaffeezeit und wir wünschten uns gegenseitig Glück.
Ich führte einige der Wegmanöver aus, die er mir eingeschärft hatte, aber es war alles ein bisschen anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Dann sah ich ein Fernmeldekabel, das vielleicht zu dem geheimnisumwitterten Haus führen würde, das de Bryun ja schon zu Ostzeiten als Wochenendgrundstück erworben haben soll. Da gewahrte ich in einiger Entfernung einen anderen Landrover, der offenbar auf einem Weg langsam entlangfuhr. Dann drehte er aber um und fuhr ebenso langsam in der entgegengesetzten Richtung. Als ich näher kam, sah ich eine etwas unwirkliche Szene, dass dieser PKW eine Egge zog auf einer schmalen Waldlichtung. In einiger Entfernung warf ein Sämann auf archaische Weise Körner aus. Ich tippte auf etwas Besonderes, aber auf den Säcken am Rand stand Weizen. Vielleicht war das sogar de Bryun bei einer Ökomaßnahme. Dennoch fragte ich diesen Mann erneut nach dem geheimnisvollen Weg und erhielt Auskunft.
Dieser war unbeschreiblich wundersam. Erst ging es an einer schmalen Wiese entlang leicht bergab, gesäumt von den üblichen Kiefern. Einige abgeschlagene Äste lagen herum und ich sah ein abgezäuntes Areal mit anderem Bewuchs, nämlich Fichten, wie man sie sich gern in den Garten pflanzt. Ob da das Haus versteckt stand? Mit einem Mal weitete sich der Streifen zu einer Wiese groß wie eine Alm, und nach oben abgeschlossen säumte der Urwald beide Seiten. Dazu war dieser noch behend ansteigend, so dass der Eindruck eines Tales entstand und tatsächlich trägt dieses Arrangement der Natur den Namen Schanze.
Die Alm war quer unterteilt in drei oder vier nahezu quadratische Abschnitte und an jedem stand ein vernagelter Hochstand. Es waren Töpfe und Pfannen aufgehängt, die im leichten Wind mit dumpfen Tönen drohen sollten. über den seitlich verlaufenden Bach musste am heutigen Tage eine einfache Brücke gebaut worden sein, bestehend aus zwei Fußstangen und einer Geländerstange, die sehr frisch geschält und ziemlich dünn waren. Wie ein Indianer suchte ich den Urwald mit den Augen ab und hielt manches Mal einen umgestürzten Baum für eine Dachrinne, gut getarnt versteht sich.
Die abschüssige Alm endete in einem querverlaufenden Matschweg und dahinter schimmerte ein See. Es war also Fehlanzeige gewesen mit dem versteckten Naturhaus der de Bryuns. Vielmehr standen unten an dem Matschweg eine verlassene Baracke, wo ein älterer Mann einherschritt und ein gutbürgerliches Haus mit Warnung vor dem bissigen Hunde. Ein schwarzer Landrover stand vor der Tür. Ich entzifferte über den Zaun das Namensschild an der Haustür. Der bissige Hund rührte sich nicht, oder es gab diesen gar nicht.
Vielleicht hatte ich auf der Alm nicht gründlich genug beobachtet. Ich schlug den Rückweg ein und nahm den Weg über die neue Stangenbrücke. Es konnte doch sein, dass der Dichter meinen Besuch erwartet hatte, einer Eingebung folgend am selbigen Tag die Brücke zimmernd, die unter meinem Gewicht beinahe durchbrach, aber eben doch hielt und ich an die Gummistiefel dachte, die dort eigentlich obligat sind.
Vom erhöhten Weg, den ich jetzt im Urwald gewann, suchte ich noch mal die Hügel diesseits und jenseits der Alm ab, aber die Sache war offenbar verloren. Die surrealistische Szene mit dem eggenden PKW auf notdürftig umgebrochenem Waldboden war immer noch vorhanden und ich wollte sie schon für einen Teil dieses Verwirrspiels halten, als der Sämann über das ganze Feld zu mir herüberkam, als er mich sah. „Nun haben Sie de Bryun gefunden?“ „Nein.“ „Sind Sie denn nicht den Weg gegangen, den ich Ihnen beschrieben habe?“ „Doch, aber ich habe es nicht gefunden, ich war bis zum See unten.“ „Na da ist es doch“, sagte der Sämann. „Aber da stand Petersen an der Haustür.“ „Das ist es doch. Stand denn der schwarze Landrover da?“ „Ja, der stand dort und ich habe ihn heute schon einmal gesehen.“ „Was wollten Sie denn von de Bryun?“ „Einfach eine Tasse Kaffee trinken mit dem Alten.“ „Schade, wir haben keinen Kaffee hier, sonst bekämen Sie einen.“ „Na das geht auch so.“ „Das war früher ein Kinderferienlager, deshalb die Baracke, das war der Speisesaal.“
Muss Literatur solche Opfer fordern? Muss man eine Kindereinrichtung umwidmen, nur wegen der eigenen Schaffensfreude? Dieses ganze Kleinod der Natur, dass man denken könnte, man ist in Thüringen oder der Schweiz für diesen märkischen Dichter?
Die Reise hat sich gelohnt, auch wenn ich danach über 40 km in den Beinen hatte. Manchmal muss man aber die Sachen schon genau wissen.
in Beeskow 14.4.2012